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Zwei Geschenke

Caroline

Sonntagmittag. Den ganzen Vormittag habe ich mit Mina gespielt und gebastelt. Nicht weil ich in Spiellaune wäre. Im Gegenteil. Ich bin hundemüde und bräuchte endlich mal Zeit für mich an diesem Wochenende. Bis gestern Abend waren Mina und ich an einer Weiterbildung für Pflegeeltern in Bern. Während die Eltern zuhörten, hatten die Kinder ein eigenes Spiel-, Bastel- und Turnprogramm. Richtig cool. Und damit wir am Samstagmorgen nicht wahnsinnig früh aufstehen mussten, hatten wir bei Minas grosser Halbschwester in der Nähe übernachtet. Soweit so gut. Doch nun sind wir beide geschafft von unserem Abenteuer. Und seit Mina heute aufgestanden ist, spüre ich, dass sie gestresst und angespannt ist.


Was das Thema der Weiterbildung war? Es ging ums Mentalisieren. Was das ist? Mentalisieren bedeutet, sich mit dem Kopf und mit dem Herz in jemanden hineinzuversetzen und hineinzufühlen. Das habe ich gestern gelernt. Leider hat das ganze Spielen und Basteln nichts gebracht. Mina scheint mir weiterhin angespannt, gelber Zustand. Ich weiss aber nicht weshalb. Im Moment bin ich dabei, Bilderbücher für meine zweijährige Nichte einzupacken, die vor kurzem ein kleines Brüderchen bekommen hat. Mina hat ebenfalls Geschenke fürs Baby und die grosse Schwester gebastelt und diese schon vor Tagen eingepackt. Heute Nachmittag wollen wir die Familie meines Bruders besuchen und den Neuankömmling bestaunen. Mina schaut mit einem Auge auf den Fernseher zu Yakari, mit dem anderen beobachtet sie, wie ich auf dem Boden kniend Geschenkpapier um die Wimmelbücher wickle. „Du musst mir auch zwei Geschenke geben, wenn du Finja zwei gibst, hörst du?!“ Minas Stimme klingt laut, und sie schaut mich fordernd an. „Nein, ich geb dir doch nicht einfach zwei Geschenke, Mina. Finja bekommt die auch nur, weil sie ein jetzt ein Baby hat und ihre Eltern mit Milo teilen muss.“ Minas Blick verfinstert sich - und schon geht sie mit den Fäusten auf mich los.


Blitzartig muss ich mich von meinem schönen inneren Bild lösen - Mina und ich packen die Geschenke fertig ein und fahren dann einträchtig zu meinem Bruder, wo wir einen schönen Nachmittag verbringen und alle happy sind - und mich auf den roten Zustand von Mina einstellen. Mir geht es ungefähr wie einem alten Boxer, der glaubt, er liege in seinem Bett und träume selig, dann aber im Boxring stehend jäh erwacht. Während der freshe Gegner mit seiner berüchtigten Linken bereits zum Schlag ausholt, versucht der schlaftrunkene Boxer, seine Fäuste wenigstens noch in Verteidigungsstellung zu bringen. Doch da kollidiert seine Nase auch schon mit dem gegnerischen Boxhandschuh. „Mina, was ist denn los?“, ist alles, was mir einfällt, während ich gut aufpassen muss, dass Mina nicht zu nahe an mich herankommt. Natürlich gibt sie mir keine Antwort, denn Mina befindet sich innerlich nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern in einem äusserst bedrohlichen Damals und Dort, wo es ums nackte Überleben geht. Deshalb schlägt und tritt Mina weiter und versucht mir Haare auszureissen. Alles, was man eben so macht, wenn es hart auf hart kommt.


Schon bald zeige ich Ermüdungserscheinungen. Ist auch kein Wunder. Ich spüre, wie ich auch wütend werde, denn ich habe keine Nerven für so etwas. „Ich gehe in die Waschküche“, rufe ich Romeo zu und verlasse fluchtartig die Wohnung. Wenigstens folgt mir Mina diesmal nicht ins Treppenhaus. Wie war das doch gleich mit dem Mentalisieren? ICH müsste mich jetzt in SIE hineinversetzen?!? Unmöglich. Ich fühle mich zu Unrecht an den Pranger gestellt, nicht wahrgenommen und meine Bedürfnisse komplett missachtet. Ach ja, das Mentalisieren macht man als Pflegemutter zuerst bei sich selber, blitzt es in meinem Gedächtnis auf. Gut. Also sage ich mir selber, dass es ist ok ist, wütend zu sein und im Moment keine Nerven für Mina haben. Mir selber Mitgefühl entgegen zu bringen tut mir gut. Mein Kopf wird wieder klarer. Nun kann ich mir überlegen, was wohl für Mina falsch gelaufen sein könnte: Ich wollte doch nur Geschenke einpacken, das war doch nichts gegen Mina?


Dann dämmert es mir: Was für mich simple Pflichterfüllung ist, bedeutet in Mina-Sprache wohl einfach zwei Geschenke für ein fremdes Kind, und null für Mina. Angenommen, Minas kleinkindliche Symbiosebedürfnisse mir gegenüber sind sehr ausgeprägt seit unserer Heimkehr. Weil sie Vieles verarbeiten muss: Die Begegnung mit ihrer Halbschwester, die Gespräche, die wir über Minas Babyzeit geführt haben, den ganzen Tag zusammen mit anderen Pflegekindern, die Reise hin und wieder zurück. Gelber Zustand durch kritische Instabilität. Könnten dann zwei Geschenke für ein anderes Kind Trigger für den roten Zustand sein, wenn ich mich weigere, Minas Forderung nachzukommen und ihr auch zwei Geschenke zu geben? Klingt plausibel, wenn es man es so betrachtet. Jetzt erscheint Mina live in der Waschküche, noch immer mit verzerrtem Gesicht und erhobenen Fäusten. Doch nun kann ich auf sie zugehen und fragen: „Mina, was brauchst du, damit es dir wieder gut geht? Wenn Geschenke helfen, dann gebe ich dir gerne auch zwei.“ Mina setzt sich mit dem Rücken an die Waschküchenwand und beginnt zu weinen und schluchzen. Alle Spannung weicht aus ihr. Nun kann ich Mina in die Arme nehmen und trösten.


Nein, die beiden Geschenke braucht es nun nicht mehr. Als Mina sich beruhigt hat, geht sie zufrieden nach draussen spielen, und ich mache mich alleine auf den Weg zu Finja und dem Baby. Romeo bleibt daheim. Nun kann ich in Ruhe meine zwei Geschenke überreichen und mit Finja spielen, ohne dass es für Mina wieder bedrohlich werden könnte. Ein schöner Nachmittag, und alle sind happy. Ich bei meinem Bruder und Mina mit ihren Freunden…


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