Dieser regnerische Samstagmorgen beginnt harmonisch. Mina und ich machen unsere Sternenformen mit den Bügelperlen fertig und bügeln die Kunstwerke dann, damit die Perlen nicht mehr rauskullern können. Irgendwann gesellen sich auch Julia (21) und Yasmin (19) zu uns an den Tisch, trinken ihren Kaffee und unterhalten sich mit uns.
Kurz darauf fängt Mina mit den grossen Schwestern zu streiten an, zupft an ihnen herum und boxt sie auf die Arme. Gelber Zustand. Ein paar Minuten geht es auf und ab. Aber mir gelingt es nicht, Mina erfolgreich abzulenken. Dann kippt Mina von einem Moment zum andern ins Rote und ist nicht mehr richtig ansprechbar. Ich nehme sie an der Hand und gehe mit ihr aus dem Wohnzimmer. In einem anderen Raum versuche ich, Mina mit einem neuen Reiz für Augen und Ohren, sprich mit Fernsehen, aus ihrem Zustand herauszuholen. Manchmal funktioniert das gut. Aber nicht heute. Mina schreit: "Lass mich in Ruhe, ich will nicht!" Sie rennt weg, in Yasmins Zimmer, mit der sie offenbar gerade das grösste Hühnchen zu rupfen hat. Dort springt sie auf ihr Bett, schreit laut und versucht Yasmin zu treten. Diese wehrt sie ab, und Mina fällt mit einem moderaten Plumpsen auf den Boden. Nun schreit Mina nicht mehr, sondern sie beginnt herzzerreissend zu weinen. Dicke Tränen kullern ihre Wangen runter. Yasmin sagt spöttisch: "Hör auf mit deinem Fake-Weinen."
Ich kann Yasmins Äusserung gut nachvollziehen: "Zuerst angreifen und dann einen auf Opfer machen, wenn man sich nicht durchsetzen kann?", könnte man denken. Trotzdem gehen meine Gedanken in eine andere Richtung: Ich vermute, dass Mina mit dem Wechsel vom Schreien zum Weinen vom kontrollierenden, täterähnlichen roten Zustand in den zerbrechlichen, opferähnlichen roten Zustand gefallen ist. Was nun?
Die Traumapädagogik lässt grüssen... Zeit fürs Containment. Ich stelle mir vor, dass Mina wieder ein Baby ist. Ein Baby, das ausser sich ist und mit seine starken Gefühlen nicht zu Rande kommt. So ein kleines Wesen nimmt man auf den Arm, trägt es herum und wiegt es tröstend hin und her, bis es sich beruhigt hat und alles wieder gut ist. Die grosse Mina kann ich in diesem Zustand nicht auf die Arme nehmen. Manchmal kann ich sie in einem solchen Moment nicht einmal berühren. Heute lässt es Mina zu, dass ich ganz leicht meine Hand auf ihre Hüfte lege. Dann beginne ich Mina in meiner Vorstellung zu wiegen wie ein ganz kleines Kind. Das geht für mich einfachsten, wenn ich mich selber ganz leicht hin- und herwiege. Nach ein paar Minuten geht das laute Weinen in ein wimmerndes, schrilles Schluchzen über. Vor meinem inneren Auge sehe ich jetzt einen neugeborenen Säugling und nehme auch den auf den Arm. Ich wiege mich und den imaginären Mina-Frischling weiter hin und her. Dabei stelle mir vor, wie ich die überwältigenden Gefühle, die den Mina-Säugling vielleicht gerade erfüllen, mit ihm zusammen trage und verarbeite. Und dass das einen heilenden Effekt haben könnte.
Dann wird es still. Mina nimmt einen herumliegenden Haargummi vom Boden auf und fängt an, diesen mit ihren Fingern zu verflechten. Dabei plaudert sie ruhig vor sich hin, offenbar ganz zufrieden mit sich und der Welt. Zurück im grünen Zustand, denke ich erleichtert.
Mina und ich gehen nach draussen und probieren die noch zu grossen Inline-Skates ihrer Schwestern aus. Wie bei allem anderen auch wird Mina zu ihrer Zeit auch in diese Schuhe hineinwachsen, denke ich. Nur immer weitermachen!
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