Frühstückszeit. „Mami, gib mir Brot.“ Ich stehe auf und gehe zum Schneidebrett. „Nein, nicht dieses Brot!" "Mina, ich habe kein anderes Brot. Möchtest du Nutella darauf?", versuche ich abzulenken. "Gib mir Brot!" Oje, roter Zustand. Ich gehe ein paar Schritte zur Seite und schneide dann eine Brotscheibe ab. Erraten. Vom Brot, das ich habe, nicht von dem, das ich nicht habe - und lege es Mina auf den Teller. Zum Glück ist heue das neue Nutellaglas dran, und Mina darf die Goldfolie entfernen. Dies scheint die Anspannung zu lindern, denn das falsche Brot wird nun kommentarlos aufgegessen.
Julia erzählt, dass sie morgen ins Wallis fährt, um Nora zu besuchen, die dort ein Chalet gemietet hat. „Kann ich auch mitkommen?“, fragt Mina eifrig. Julia verneint. Es habe zu wenig Betten, meint sie. "Kann ich aber heute mit dir und deinem Freund baden kommen?“, fragt Mina weiter. Julia hat fertig gegessen. Sie ist schon halb aus der Tür und bleibt Mina die Antwort schuldig. "Nein, Mina,“, antworte ich an Julias Stelle. „Ich glaube, sie wollen zu zweit etwas unternehmen." Vor zehn Minuten noch hat Romeo sie gefragt, ob sie mit ihm heute baden gehen möchte. Mina wollte aber lieber mit ihren Freunden abmachen, wenn die ausgeschlafen haben. Schwierig.
Mina tritt mit dem Fuss auf die Glastüre los, die den Korridor mit dem Wohnzimmer verbindet. Genau so dosiert, dass wir es nicht ignorieren können. Schon wieder - oder immer noch? - roter Zustand. Romeo ist zuerst bei Mina und redet auf sie ein, worauf Mina schreit und nach ihm schlägt. Und was mache ich jetzt? Mit der Bettdecke iIns Zimmer ziehen, Fernseher, Spielangebot, Teddybär und Kuscheltuch, über ihre Freunde reden, heute nützt alles nichts. Romeo kommt mit einem Schoggitaler an und hält ihn Mina hin. Gute Idee. Mina schaut kurz hin und schlägt Romeo den Taler aus der Hand.
Wie könnte ich einen neuen Reiz setzen, der Mina aus dem roten Zustand herausbringt? Augen, Ohren, Nase, Geschmack, Fühlen, alle Sinne kommen in Frage. Am liebsten würde ich Mina ja mit einem Eimer Wasser übergiessen, um sie zur Besinnung zu bringen... Trotzdem nicht empfehlenswert.
Da fällt mein Blick auf zwei herumliegende Tischtennisschläger. Vorgestern haben Mina und ich damit auf dem Esstisch gespielt. War ihre Idee. Während sich die Dinge im Hintergrund weiter hochschaukeln, räume ich den Esstisch leer und lege die Schläger auf den Tisch. Das Bällchen lasse ich versuchsweise in Minas Nähe auf den Boden springen. Plop, plop, plop. Mina horcht auf und dreht den Kopf. Gut, das scheint sie zu hören. "Mina, magst du mit mir Ping-Pong spielen?“, frage ich sie. Mit einem Schläger tippe ich auf das Bällchen und lasse es weiter über den Boden hüpfen. Plop, plop, plop. Mina lässt von Romeo ab und kommt näher. "Welchen Schläger hast du nochmal gehabt, Mina?", frage ich das Erstbeste, was mir in den Sinn kommt, um Minas Interesse wachzuhalten. "Dieser da, der hier ein wenig kaputt ist, ist meiner", sagt Mina und wendet sich mir ganz zu. Dann spielen wir. Mina entspannt sich, und irgendwann spüre ich, dass wieder im grünen Zustand ist. Gott sei Dank.
Während wir spielen, überlege ich, was denn nun Minas Alarmzustand ausgelöst haben könnte. Was sagt die Traumapädagogik, wann fällt jemand in den roten Zustand? Entweder braucht es einen Trigger, also einen Auslöser, der unmittelbar den roten Zustand bewirkt, oder einen Zeitraum kritischer Instabilität, will heissen ein Zuviel an gelbem, bedrohlichem Zustand. Die Sache mit dem Trigger scheint mir nicht recht zu passen, deshalb tippe ich eher auf kritische Instabilität.
Ist heute etwas Besonderes los? Ja, es ist Silvester. Aber ich bin doch den ganzen Tag für Mina verfügbar. Was noch? Gestern hatte sie Durchfall und abends juckenden Hautausschlag am ganzen Körper. Antihistamintropfen haben geholfen. Doch diese Tropfen im Sirupglas runterzuschlucken, war ein Riesending für Mina. Okay, und das soll Mina ins Rote gebracht haben? Der Hautausschlag juckt jedenfalls noch immer, sagt Mina. Hinzu kommt der schwierige Moment, als Mina mitbekam, dass sich zwei ihrer grossen Schwestern im Wallis treffen und sie nicht mit darf. Und dass Julia lieber mit ihrem Freund allein baden geht als sie mitzunehmen, hat das Fass dann zum Überlaufen gebracht? Klingt nachvollziehbar. Also nix von null auf 180.
Pflegekinder haben es schon schwer im Leben, sinniere ich. Stressmomente wie plötzliches Kranksein mit Durchfall und Ausschlag, sich kurzzeitig von grossen Geschwistern abgelehnt zu fühlen und besondere Feiertage sind für die meisten Menschen handlebar. Bei stark belasteten Pflegekindern können sie aber offenbar zu seelisch unüberwindbaren Bergen werden. Glücklich ist, wer immer ein paar Tischtennis-Schläger und ein Bällchen zur Hand hat…

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