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Tränenflut

  • Caroline
  • 1. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit

Draussen wird es schon dunkel. Ich sitze eingequetscht zwischen Mina und Romeo in einer Dreierbank im TGV. Der Zug ist voll besetzt. Wir sind auf dem Weg in den Süden; es sind Herbstferien. Seit zehn Stunden bin ich konstant mit Mina beschäftigt, die redet und redet und Aufmerksamkeit braucht wie eine Dreijährige. Ich weiss, wie stressig das Reisen für ihr traumabelastetes Selbst ist. Deshalb habe ich den ganzen Tag Geduld aufgebracht. Ihr zugehört. Heikle Seelenklippen umschifft. Puffer gespielt zwischen Mina und Romeo, der auch nicht gerade der Entspannteste ist, wenn es ums Reisen geht. Und gehofft, Mina würde sich langsam wieder einkriegen. Mittags haben wir Chicken Nuggets mit Pommes besorgt. Mit Eistee. Ohne Fruchtpüree, aber mit Spielzeug. Und natürlich haben wir genügend Wasser für alle dabei.


Doch statt zufrieden zu sein, fragt Mina jetzt: „Kann ich eine Fanta vom Wägeli haben?“ „Muss das sein?“, frage ich zurück. Romeo neben mir schüttelt den Kopf. „Jetzt reichts also mit Konsumieren“, sagt er. Finde ich ja auch, aber vielleicht sollten wir trotzdem… Mina verzieht das Gesicht und fängt an, mich mit dem Ellbogen anzustupsen. Nur subtil zuerst, dann immer stärker. „Was hast du, Mina?“, frage ich. Keine Antwort. Ich versuche das Anstupsen zu ignorieren, doch sie macht immer weiter. Roter Zustand. „Komm, wir tauschen die Plätze“, bietet Romeo an, der das Ganze mitverfolgt hat. Doch ich befürchte, dass er noch weniger Nerven hat als ich und es dann erst recht eskalieren könnte. Krampfhaft versuche ich ruhig zu bleiben. Doch nach dem langen Tag habe ich keine zündende Idee mehr, um Mina aus ihrem Zustand herauszuholen. Könnte Romeo, der beim Gang sitzt, jetzt nicht einfach das verwünschte Fanta kaufen und mich aus meiner misslichen Lage befreien?


Mit einemmal habe ich genug. „Lass mich raus!“, zische ich meinem Mann zu. Romeo steht auf und lässt mich vorbei. Mina kippt durch meinen abrupten Abgang aus dem roten Täterzustand in den zerbrechlichen Teil. Tränen kullern ihr über die Wangen, und sie ruft flehentlich: „Nein, Mami, du darfst nicht weggehen!“ Doch ich brauche jetzt Abstand und lasse mich auf dem Aussenplatz nieder. Oder soll ich mich gar nicht hinsetzen? Aber im schmalen Gang des Zugabteils herumzutigern würde mir jetzt auch nicht helfen. Nun sitzt Romeo in der Mitte. Ich schaue zu den beiden rüber. Na toll. Nun ist Romeo der Liebe und Nette bei Mina: Bei ihm streckt sie schön die Beine aus, nimmt den Teddy in die Arme und lässt sich die Kuscheldecke über die Beine legen. Das bringt mich noch mehr auf. Ich bin frustriert und wütend. Auf Mina, die ich den ganzen Tag gehätschelt habe. Auf Romeo, der bequem aus der Schusslinie war und jetzt der Gute ist. Bei mir hat sie das Kuscheltuch in die Ecke geschmissen und mich gepiesackt. Alles so ungerecht…


Ich glaube, ich empfinde tatsächlich Eifersucht auf Romeo. Ein grässliches Gefühl. Auf einmal kann ich verstehen, wie es sich anfühlt, aussen vor gelassen zu werden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mina immer wieder zu mir rüberguckt. Ich tue nichts dergleichen. Langsam fällt mein Zorn in sich zusammen, und ich werde stattdessen traurig. Und dann beginnen mitten im dicht bevölkerten Abteil meine Tränen zu fliessen. Unaufhaltsam strömen sie. Was ist das jetzt?!? Ich weine praktisch nie. Und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Nun schaut Mina noch konzentrierter zu mir rüber. Sie lehnt sich über Romeo in meine Richtung und fragt alarmiert:


"Mami, brüelsch du? O nein, jetzt nicht noch diese Baustelle. „Ja“. „Wieso weinst du, Mami?“ Was sage ich jetzt? Wenn ich antworte: „Wegen dir“, fällt sie sicher gleich in den nächsten roten Zustand. "Weil ich traurig bin“, antworte ich wahrheitsgemäss. Aber Mina will etwas anderes wissen. „Du musst nicht immer das sagen, Mami.“ "Ich bin traurig wegen dem, wie ihr heute zu mir wart", sage ich schliesslich. Es stimmt, ich bin auf beide wütend. Mina scheint mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Ich lehne mich zurück und lasse die Tränen weiter fliessen. Ich bin es leid, immer gut gelaunt und stark sein zu müssen.


Beim Aussteigen lasse ich die beiden anderen voran und folge langsamer. Sollen sie den Weg suchen. Diesmal hüpfe ich nicht fröhlich in die Ferien. Aber immerhin gehe ich, einen Schritt nach dem anderen. Das muss für den Moment genügen.


ree


 
 
 

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