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Ein Sog, der in die Tiefe zieht

  • Caroline
  • 11. Nov.
  • 3 Min. Lesezeit

Wie sieht bei euch ein gewöhnlicher Sonntagmorgen aus? Sitzt ihr mit Kaffee, Gipfeli und Sonntagszeitung gemütlich am Tisch und lasst die Seele baumeln? Wenn ihr Pflegeeltern seid, vermutlich nicht. Bei mir ist der Sonntag meist der anstrengendste Arbeitstag der Woche. Gewöhnlich schaffe ich es nach dem Aufwachen noch knapp, mir einen schönen Milchkaffee einzuschenken und genüsslich einen Schluck zu nehmen. Doch dann…


„Mami, du musst zu mir ins Zimmer kommen!“, ruft Mina schon von weitem. O nein, nicht schon wieder, denke ich. Und schon kommt sie mich holen. Zuerst versuche ich noch zuversichtlich zu sein und zu hoffen, dass ich nicht wieder basteln muss nach Anweisungen, die ich nicht verstehe und ohne Material, das es dazu braucht. Denkste! Für mich ist es nur minim besser, wenn Mina am Sonntagmorgen statt zu basteln ihr Zimmer umstellen will. Jeden Sonntag ist es entweder das eine oder das andere. Heute ist Nummer eins an der Reihe: Mina schliesst mit Nachdruck die Zimmertüre und fordert: „Mami, ich will das und das basteln, hörst du?“ Dazu blättert sie fieberhaft in zwei Bastelbüchern gleichzeitig und verlangt in rasendem Tempo immer neue Dinge zum Basteln, bei denen wir das nötige Material nicht haben oder die so kompliziert sind, dass ich schon die Nerven verliere, wenn ich nur daran denke. Mir schwirrt der Kopf.


Von Minute zu Minute fühle ich mich mit Mina mehr eingeschlossen und eingeengt. Es ist wie ein Sog, der mich in die Tiefe zieht, weil es in diesen Momenten gar keine gute Lösung gibt. Die Frage ist nur: Wie lange kann ich das noch aushalten? Am liebsten würde ich aufstehen, fluchtartig Minas Zimmer verlassen und mich irgendwo verstecken. Halt, was sind das für seltsame Gedanken? Ich habe Mina von Herzen lieb und will sie nicht loswerden. Auf einmal steigt in meinem Inneren das Bild einer Mutter auf, die die gleichen Gedanken und Gefühle hat wie ich gerade. Sie fühlt sich komplett überfordert mit einem kleinen Säugling, der dauernd an ihr klebt und Präsenz und Aufmerksamkeit verlangt. Ob das Minas Geschichte ist, die sich hier in Form einer Übertragung auf mich legt?


Wenn das zutreffen sollte, macht es keinen Sinn, mich sonntags weiterhin krampfhaft zusammenzureissen und in einer energieraubenden Lage auszuharren, die nichts bringt. Ebensowenig hilfreich wäre es, meinem Drang rauszurennen einfach nachzugeben. Weil Mina dann erneut die Erfahrung machen würde, dass man sie abschüttelt. Wenn das eine Reinszenierung ist, die sich da Sonntag für Sonntag bei uns abspielt, was bräuchte Mina dann? Genau, dass ich anders reagiere als erwartet. Und nicht, dass ich mit ihr „vernünftig“ darüber zu reden versuche, dass ich keine Lust zum Basteln habe oder dass man ohne die richtigen Materialien gar nicht umsetzen kann, was im Bastelbuch gezeigt wird. Denn vermutlich habe ich in diesen Situationen gar keine Zehnjährige vor mir, sondern…


… eher einen Säugling, der verzweifelt weint und dringend in die Arme genommen werden müsste. Und wie kann ich das umsetzen? Soll ich mich das nächste Mal auf einen verlassenen Säugling einstellen statt auf eine bastelwütige Viertklässlerin, die immer das Unmögliche verlangt, wenn ich am Sonntag in Minas Zimmer mitmuss? Sie einfach in die Arme nehmen und knuddeln? Ich bin ja schon gespannt auf nächsten Sonntag…


Doch statt bis am Sonntag zu warten, zitiert mich Mina schon am Samstagmorgen in ihr Zimmer. Fast muss ich lachen, während ich innerlich mit den Augen rolle. Natürlich geschieht wieder mal das Unerwartete; diesmal ist es ein früherer Wochentag. Dann vergegenwärtige ich mir, was ich mir für den Sonntag vorgenommen habe und gehe mit ins Zimmer. Dort nehme ich die ahnungslose Mina einfach die Arme, drücke sie fest an mich und sage: „Ich hab dich soo lieb, Mina. Und ich möchte, dass es dir einfach richtig gut geht. Ich bleibe heute den ganzen Tag bei dir!“ Zu meiner Überraschung reagiert Mina ganz und gar nicht irritiert. Im Gegenteil: Sie lässt sich ohne weiteres in die Umarmung fallen und scheint es zu mögen, dass wir uns ohne Grund drücken und knuddeln.


Und dann - muss ich überhaupt nicht basteln! Mina lässt die Bastelbücher im Gestell stehen und sagt: „Komm Mami, wir machen ein lustiges Spiel mit den Karten.“ Yes, denke ich dankbar. Und dann haben wir tatsächlich einen gemütlichen und fröhlichen Sonntagmorgen zusammen. Mina, jederzeit gerne wieder!


ree


 
 
 

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