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Das Dschungelbuch

  • Caroline
  • 29. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit

Gestern hat Mina Julias Zimmerschlüssel versteckt, nicht zum ersten Mal. Meistens wartet die Grosse dann unaufgeregt ab, bis die Kleine den Schlüssel wieder rausrückt oder geht erstmal an die frische Luft. Gut, so leicht wie das jetzt klingt, ist es nicht. Denn Mina macht das nur, wenn sie schon getriggert ist. Jedenfalls hat es Julia gestern auf dem linken Fuss erwischt. Kein Wunder, hat sie doch im Studium gerade wieder eine Prüfungsphase. „Gib den Schlüssel raus, Mina, hörst du?!“, hat sie geschrien. No chance.


Eigentlich hat alles schon viel früher angefangen: Als Julia mit Romeo mittags ihre Steuererklärung am Esstisch durchgehen wollte, hat Mina sich von hinten an sie herangeschlichen und ihr auf die Schulter geklopft. „Nur ganz fiin, Mami“, hat Mina mir später versichert. „Au, du tust mir weh, hör auf!“, war hingegen Julias Reaktion. Danach war Mina wütend auf Julia. Und der Zimmerschlüssel schon bald unauffindbar…


„ Julia ist selber schuld. Ich habe ihr nur ganz leicht auf ihre Schulter getippt, aber sie sagt immer: Du tust mir weh, du tust mir weh…“ Ich versuchte Mina zu erklären, dass wir in der Familie alle verschiedene Empfindlichkeiten haben: „Weisst du, bei uns haben alle etwas anderes: Ich finde es ganz schnell mega laut, wenn jemand im Wohnzimmer Musik hört oder fernsieht, und du hast glaub leicht das Gefühl, dass man dich nicht will. Romeo findet schon früh, dass andere streiten, wenn sie nur reden, und Julia hat es gar nicht gern, wenn man sie einfach am Körper berührt. Verstehst du?“ Doch Mina will nichts hören.


Derweil hat es auch Julia ausgehängt. Entrüstet packt sie ein paar Sachen zusammen und sagt zu niemand Bestimmtem: „Ich kann so nicht leben in dieser Wohnung. Ich gehe zu Yasmin und komme erst wieder nach Hause, wenn mein Zimmerschlüssel da ist.“ Sagt es und verschwindet aus der Wohnungstür. Mina bleibt zurück wie vom Donner gerührt. Trotzdem ist sie noch immer im Kampfmodus: „Julia hat mir gesagt, sie zieht aus, wenn ich ihr den Schlüssel nicht mehr gebe. Aber sie lügt eh immer und sagt das nur so. Sie hat sowieso kein Geld für eine andere Wohnung. Und ich gebe ihr den Schlüssel nie mehr.“


Mittlerweile ist es Abend. Eigentlich der optimale Zeitpunkt für unsere geliebten Schinkengipfeli mit Salat. Doch nach Julias abruptem Abgang hat niemand mehr Appetit. Trotzdem müssen wir irgendwann etwas essen. Ich ziehe ich mir eine Küchenschürze über und mache mich ohne Enthusiasmus an die Füllung für die Schinkengipfeli: Kräutercantadou mit Milch verrühren, Reibkäse dazu. Schinken würfeln und zu den Rühreiern geben… Mina muss ich auch noch in die Badewanne kriegen für ihr wöchentliches Bad mit Haarewaschen, fällt mir ein.


Das warme Wasser scheint unsere Jüngste zu beruhigen; bald spielt sie entspannt mit den Seifenblasen in der Wanne. „Mami, komm mal ins Badezimmer und nimm dein Handy mit“, höre ich ihre Stimme durch die geöffnete Türe. „Du musst Julia schreiben, hörst du? Schreib: „Chum hei.“ „Aber sie kommt doch erst wieder, wenn ihr Zimmerschlüssel wieder da ist“, entgegne ich, gespannt auf ihre Antwort. „Sag ihr, wenn sie kommt, gebe ich ihr den Schlüssel wieder.“ Bis ich Julia schliesslich heimkommen höre, schläft Mina schon tief. Julias Zimmerschlüssel steckt seit Stunden wieder im Schloss.


Am nächsten Tag kommt Julia mit einem A-4-Papier in der Hand zu aus ihrem Zimmer und fragt: „Hat Mina das für mich gebastelt?“ „Sieht ganz so aus“, antworte ich nach einem flüchtigen Blick auf das Blatt. „Was ist es denn?“ Wortlos hält mir Julia das Bastelwerk hin. Mina hat verschiedene Emojis gezeichnet, ausgeschnitten und kreisförmig aufgeklebt. Der Clou dabei ist, dass man die verschiedenen Gesichter wegnehmen und wieder anheften kann. In der Mitte ist ein leerer Kreis gezeichnet, auf den man jeweils ein Emoji anklebt. „Mami, das ist ein Gefühlsspiel, das Mina mir gebastelt hat. Da kann man einander zeigen, wie man sich fühlt!“ Super, Mina, denke ich. Du bist auf der richtigen Fährte mit dir selber. Denn darum, einander zu zeigen, wie man sich fühlt, wäre es auch gestern Nachmittag gegangen, als Mina so ausser sich war.


P.S. Nach ihrem Bad am Sonntag hat mir Mina ein Geheimnis verraten: „Weisst du, wo ich Julias Zimmerschlüssel versteckt habe, Mami? Immer wenn sie mich nervt, verstecke ich ihn in einer anderen Pflanze bei ihr im Zimmer. Das mache ich jedes Mal so. Dann kann sie mich nicht mehr aussperren.“ Ich muss grinsen, denn Julia hat diverse grosse Pflanzentöpfe in ihrem Zimmer stehen. Wenn ich mir vorstelle, wie sie gestern in der ganzen Wohnung erfolglos den Schlüssel suchte, während Mina ihr ungerührt dabei zusah… Kleine Kröte!


ree

 
 
 

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