Gestern Samstagmorgen hatte Mina einen Termin bei der Craniosacral-Therapeutin. Was die macht? Sie hilft, hartnäckige Körperverspannungen zu lösen. Mina profitiert von dieser Behandlung, seit sie als Baby mit Verdauungsproblemen zu uns gekommen ist. Nein, besonders gern geht sie nicht. Aber sie kommt mit. Wir machen es immer gleich: Vor dem Termin beim Bäcker ein Schoggibrötchen und danach einen Stadtbummel. Dieses Rezept funktioniert zuverlässig.
Als ich Mina heute daran erinnere, dass wir in 60 Minuten los müssen, sitzt sie mit Julia auf dem Sofa und guckt sich das neue Betty Bossi-Osterheft an. "Mami, können wir jetzt diese Osterhasenpancakes machen?", fragt sie bittend. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick auf das Foto: Eine nette Idee. Also für Ostern. "Heute haben wir dafür keine Zeit, Mina, aber an Ostern können wir das sicher machen. Oder die Hasen morgen Sonntag schon mal in aller Ruhe ausprobieren."
Minas Gesichtsausdruck verdüstert sich und ihr Blick wird finster. Ohoh... Sie beginnt Kissen herumzuwerfen und Bücher hintendrein. Dann schlägt sie auf die Topfpflanze ein, die neben dem Sofa auf dem Boden steht. Roter Zustand - von einer Sekunde auf die andere. Mein Mann Romeo und Julia kommen dazu, um zu schauen, ob sie helfen können. Ich hole ein Znünisäckchen aus dem Schrank, in dem sich verschiedene Schleckwaren befinden. Ich hoffe, das Rascheln hinter meinem Rücken könnte einen neuen Reiz setzen, der Mina wieder aus ihrem Zustand herausholt. Als stabilisierende Massnahme bringt Julia Minas Bettdecke, ihr Kuscheltuch und den Teddy zum Sofa und versucht ihre Pflegeschwester auf die Bettdecke zu lotsen. Romeo trägt die Topfpflanze aus der Gefahrenzone ins Badezimmer. Ich raschle mit dem Säckchen. Leider ohne Erfolg.
"Lass mich in Ruhe, hörst du?!", schreit Mina, als ich ihre Hände zwischenzeitlich festhalten muss, damit niemand zu Schaden kommt. Was könnte ich sonst noch tun? In einer Weiterbildung hat kürzlich jemand berichtet, dass ein Jugendlicher im roten Zustand jeweils erst recht ausflippe, wenn man ihm zu nahe komme. Das probiere ich jetzt aus: "Also, Mina, du kannst dort drüben auf dem Sofa sein, und ich setze mich ein paar Meter weiter weg von dir auf den Boden. Ich lasse dich in Ruhe." Ich stelle den Fernseher an und suche nach einer Lassie-Geschichte, Minas momentanem Favorit. Dann öffne ich die Fenster im Wohnzimmer, um kühle Luft hereinzulassen. Mina schreit immer noch laut, aber aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sie sich aufs Sofa setzt und zumindest mit halber Aufmerksamkeit Lassie zuschaut, die mit ihrem berühmten Hundespürsinn wieder mal ein Kind im Rollstuhl rettet.
Was mit dem Gesundheitstermin ist? Den können wir vergessen, sagt meine Uhr. Schliesslich geht mein Mann anstelle von Mina in die Stadt, damit wir für die Sitzung, die wir jetzt eh bezahlen müssen, wenigstens eine Gegenleistung bekommen. Ihm schadet die Behandlung bestimmt auch nicht...
Mittlerweile hat sich Mina beruhigt, so dass ich meinen eigenen Gedanken nachhängen kann. Mich beschäftigt besonders die Frage, weshalb Mina heute Morgen so ausgetickt ist. Der Samstag ist sonst ein guter Tag. Die Craniosacral-Therapie ist auch nichts Aussergewöhnliches, und dass wir die Osterpancakes nicht sofort ausprobieren konnten, gehört für eine Achtjährige eigentlich zum normalen Alltagsfrust. Mir kommt dieses Nachdenken etwa so vor wie Kaffeesatz lesen...
Julia hat vorhin erzählt, dass Mina gestern über Bauchweh geklagt hat, als ich nicht da war. Julia war gestern auch krank. Ihr war übel und sie hatte Kopfschmerzen. Ob Mina wohl einfach krank ist? Krankheit ist für Mina ein schwieriges Thema. Sie löst dieses Problem, indem sie praktisch nie krank ist und in der Schule fehlt. Mir kommt es so vor, als sei ihr Körper seit Beginn darauf trainiert, keine Krankheitssymptome zu zeigen, sondern immer weiterzumachen. "Mami, bringst du mir meine Bettdecke zum Sofa?", unterbricht Mina meine Gedanken. Sie hat ein langärmliges Jäckchen übergezogen und kuschelt sich bis zum Hals unter die Decke, obwohl sie sonst nie friert und auch im Winter immer kurzärmlig schläft. Ich lege ihr die Hand auf die Stirne. Sehr warm und feucht...
Kann es sein, dass blosses Kranksein ein belastetes Pflegekind in den roten Zustand werfen kann? Oder zumindest in den gelben Zustand kritischer Instabilität, so dass ein einfaches Nein zu Osterpancakes mitten in der Fastenzeit als Trigger ausreicht? Ich weiss es nicht. Gut, Pflegekinder haben oft einen schlechten Zugang zum eigenen Körper. Ich beschliesse die Probe aufs Exempel zu machen und gebe Mina ein Portion Schmerzmittel.
Eine halbe Stunde später steht sie vom Sofa auf und ruft: "Mami, kommst du im Gang Fussball spielen?" Bingo. Offenbar hatte sie wirklich Schmerzen. Mina will, dass wir mit dem Schere-Stein-Papier-Spiel um den Anstoss knobeln. Ich gewinne. Deshalb verlängert Mina von einmal auf dreimal. Leider liege ich auch dann noch vorn. "Okay, wir machen es heute so, dass die anfangen darf, die verloren hat," sagt Mina und sprintet mit dem Fussball an mir vorbei...
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