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  • Caroline

Ihre Geschichte und meine Geschichte

Heute ist Tag 12 meiner Augenentzündung. Ja, ich weiss. Nicht zu fassen, dass eine Bindehautentzündung so lange dauern kann... Nach den ersten Tagen wurde bei mir gar nichts besser. Meine Augen blieben weiterhin verklebt, entzündet und taten immer noch gleich weh. Oder sogar mehr. Trotz der antibiotischen Kortison-Augentropfen, die die Augenärztin mir mitgegeben hatte. Am Morgen von Tag 9 wurde es richtig unerträglich für mich mit diesem Kratzgefühl, das sich anfühlte wie eine Wimper im Auge, die man nicht zu fassen kriegt. An diesem Morgen war ich nicht mehr recht in der Lage, Mina beim Bereitmachen für die Schule zur Seite zu stehen. Zwar konnte ich mit viel Willenskraft noch alles abspulen, was nacheinander drankam, aber ich schätze, ich war so sehr mit meinem Leiden beschäftigt, dass die innere Verbindung mit Mina nur noch schwach spürbar war.


Das merkte ich daran, dass Mina immer weinerlicher, schwieriger und anhänglicher wurde. Ich realisierte, dass ich ganz in meinem eigenen Film gefangen war, irgendwie abgekapselt von der Welt und auch von mir selbst. Ich wusste, nun musste ich etwas tun, sonst würde Mina heute Morgen nicht von mir weg und in die Schule gehen. Irgendwie musste ich mich für sie wieder erden und zurück zum Geschehen im Hier und Jetzt finden. Doch wie macht man das mit diesem quälenden Kratzen in den Augen? Ich atmete ein paarmal tief durch und versuchte, den Boden unter mir zu spüren und mir vorzustellen, wie der mich trägt, damit ich mit Mina wieder richtig in Kontakt treten könnte. Ich rang mich dazu durch, ihr in die besorgten Augen zu schauen und zu sagen: "Mina, ich habe einfach so starke Schmerzen in den Augen. Du brauchst dir trotzdem keine Sorgen um mich zu machen. Ich werde heute nochmals zur Augenärztin gehen, damit sie mir hilft, dass die Augen gesund werden. Danach wird es mir hoffentlich besser gehen." Mina beruhigte sich zusehends, und interessanterweise konnte auch ich wieder klarer denken. Als sich Mina auf den Weg in die Schule machte, griff ich zum Telefon und meldete mich als Notfall in der Augenarztsprechstunde an.


An diesem Morgen berührten sich unsere Geschichten, Minas und meine. Meine Geschichte ist die Erfahrung in meiner Kindheit, dass irgendwie keiner für mich da und empfänglich war, wenn es mir schlecht ging oder ich krank war. Ich hatte immer das Gefühl, es sei falsch, krank zu sein und man müsste sich stattdessen zusammenreissen und einfach weitermachen. Und mein Vater fand es unerträglich, uns Kinder krank zu sehen. "Geh doch in dein Zimmer krank sein, und lieg nicht im Wohnzimmer rum wo man dich sieht," sagte er dann. Krankheit oder Unfall haben bei mir auch heute noch leicht den Effekt, dass ich mich überfordert fühle, weil ich meine, das sollte es einfach nicht geben, und ich davon ausgehe, alles alleine tragen zu müssen. Ich vertraue auch nicht wirklich darauf, dass eine Arztperson gut für mich schaut oder mich nochmals empfängt, wenn ich mich wieder melde. Eine äusserst schwere Bürde! Das brachte mich an diesem Morgen wohl so an den Rand.


Minas Geschichte beinhaltet vermutlich den Grund dafür, dass sie so schnell in einen seelischen Notzustand gerät, wenn ich als nächste Bezugsperson nicht für sie ansprechbar bin. Worauf das bei ihr genau zurückgeht, darüber lässt sich nur spekulieren. Aber unsere beiden Geschichten gleichen sich. Sie handeln davon, dass wir beide als Kind ein sicheres Band der Verbindung zu unseren Bezugspersonen gebraucht hätten, bzw. noch immer brauchen.


Während ich das schreibe, fühle ich Dankbarkeit in mir aufsteigen, weil ich Mina an diesem Morgen innerlich nicht ganz abhängen musste, so wie ich mir als Kind von meinen Eltern öfters abgehängt vorkam, sondern einen Weg finden konnte, um die Verbindung zu mir selbst und mit Mina wiederherzustellen. Innerlich sehe ich das Kind vor mir, das ich einmal war, und weine in meiner Vorstellung nun die Tränen, die zu mir als einsamem Kind gehört hätten. Wunderbar, dass sie endlich geweint werden dürfen.


Nach der Anmeldung bei der Augenärztin bitte ich nochmal um Hilfe, was unglaublich schwierig ist für mich. Weil ich von Kindsbeinen an daran gewöhnt bin, mich in körperlichen und seelischen Nöten allein zu fühlen und wenig Unterstützung zu bekommen, zweifle ich daran, dass ich überhaupt Gehör finden würde. Doch heute bitte ich Julia, mich zur Augenärztin zu begleiten, einfach als Beistand für mich. Danach rufe ich Nora an, um, um ihr zu erklären, dass ich es wohl nicht schaffen werde, rechtzeitig zurück zu sein, bis Mina von der Schule heimkommt. Ob sie einspringen könnte? Nora hört mir zu und fragt dann: "Ist es wirklich nötig, dass ich komme?" Heute bejahe ich mit Nachdruck. Daraufhin ändert meine Älteste ohne weiteres ihren Tagesplan und kommt zu uns heim, um auf Mina zu warten. Ein Hoch auf meine Töchter, die mich nicht im Stich liessen, als ich sie brauchte!


Was die Augenärztin sagte? Nun, sie meinte, wenn es sich um ein epidemisches Virus wie zum Beispiel das Adenovirus handle, könne es gut und gerne einen Monat dauern, bis alles abgeheilt sei. Sehr tröstlich... Aber spätestens dann sei Schluss mit dem Kratzen in den Augen. Wenn es zu sehr schmerze, solle ich halt ein Schmerzmittel nehmen. Dann drückte sie mir ein zweites antibiotisches Präparat und Schmierflüssigkeit für die Augen in die Hände und wandte sich dem nächsten Patienten zu. Heute, am Tag 12, geht es mir endlich besser.


Als Pflegeeltern werden wir immer wieder mal an unsere eigene Geschichte erinnert, vermutlich öfters als uns lieb ist. Wir können das einfach nicht wahrhaben, verdrängen oder unsere negativen Gefühle auf die Pflegekinder schieben. Oder wir können unsere Geschichte anschauen und wahrnehmen, was in uns aufsteigt. Und für einmal unser eigenes Leiden von früher anerkennen. Und dann vielleicht mit unseren Kindern und Pflegekindern etwas Besseres leben als das, was wir selbst als Kinder gewohnt waren. Pflegekinder - eine unglaubliche Herausforderung - und eine Riesenchance, zu uns selbst zu finden!




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