Heute ist ein Freudentag für mich. Yasmin (19), unsere dritte Tochter, gibt bald ihre Maturarbeit ab. Wieso ist das ein Freudentag? Und was hat das mit mir und dem Blog zu tun hat? Nun, in Yasmins Arbeit geht es ums Thema ADHS. Yasmin beschreibt neben einem theoretischen Teil auch ihre Kindheit und Schulzeit aus dem Blickwinkel von ADHS. Beim Durchlesen ihrer Arbeit werden bei mir wieder Erinnerungen an Yasmins Kindheit wach:
Yasmin in der 2. Primarschulklasse. Eine Klassenlehrerin, die überzeugt ist, dass Yasmin intelligent ist, aber nicht genug motiviert zum Lernen und dass deshalb die Leistungen ungenügend seien. Und dass sie sich halt einfach mehr anstrengen müsste. Yasmin, die sich regelmässig nach der Schule zu Boden wirft und heult: "Ich gehe nie mehr in die Schule." Unsere Ratlosigkeit, als wir ausrechnen, wie viele Jahre obligatorische Schulzeit noch vor uns liegen. Ich sehe mich in dieser Zeit auch alle paar Wochen wieder zum Elterngespräch gehen. Jedesmal versuche ich, die Lehrerin auf eine andere Deutung umzustimmen, weil ich überzeugt bin, dass sich Yasmin grosse Mühe gibt, aber ihre Konzentration beim Stillsitzen verbraucht und keine Gehirnkapazität mehr für den Unterricht frei hat. Unsere Idee, dass Yasmin ADHS haben könnte. Die Lehrerin, die entschieden davon abrät, eine Abklärung zu machen mit der Begründung, Yasmin störe ja den Unterricht nicht, deshalb habe sie bestimmt kein ADHS. Die Abklärung, die wir trotzdem machen lassen, und die eindeutige Diagnose ADHS in der 3. Klasse.
Das ADHS-Elterncoaching, das wir dann besuchen. Wir lernen, nur etwas aufs Mal zu sagen, auf eine freundliche Stimme zu achten, damit nicht sofort der Gefühls-Mandelkern im Gehirn aktiviert wird und alles, was noch kommt, Yasmin in den falschen Hals gerät ("Die sind alle gegen mich und wollen mich nicht"). In Konfliktsituationen als Eltern selber ruhig bleiben, nicht die eigenen Argumente bringen, wenn Yasmin schon auf 180 ist, sondern warten, bis sie sich wieder beruhigt hat. Ans Kind glauben und seine besonderen Fähigkeiten sehen, nicht nur die Schwierigkeiten. Sich immer wieder sagen, Yasmin wird ihren Weg schon machen.
Diese neuen Fertigkeiten als Eltern haben uns sehr geholfen bei der Begleitung von Yasmin. Und mir wird bewusst, welch wertvollen Grundstock ich damals ohne es zu wissen für meine spätere Aufgabe als Pflegemutter in mir "angelegt" habe. Dadurch, dass ich mich in Yasmins Kindheit schon früh mit der Frage beschäftigen musste, wie Kinder, die nicht so einfach in die Norm passen, am besten unterstützt werden können, musste ich als Pflegemutter nicht ganz bei Null beginnen. Anderfalls hätte ich sehr viel mehr Selbstzweifel bei der Begleitung von Mina gehabt und vielleicht dauernd darüber nachgedacht, warum gewisse Dinge so schwierig sind. Statt mich mit Lösungen zu beschäftigen. Und vielleicht hätte ich irgendwann aufgegeben.
Zum Beispiel als Mina mit 18 Monaten regelmässig Spielzeug im Zimmer herumwarf, wenn wir nicht verstehen konnten, was ihre Worte bedeuteten. Und nichts sie stoppen konnte, weil sie wie weggetreten schien. Als sie diesen Sommer mit fast 7 Jahren die Entwicklungsphase 2-3 Jahre nachzuholen schien, was uns viel Kraft gekostet hat.
Freudentag. Weil schwierige Dinge im Leben neue Fähigkeiten in uns wachsen lassen können. Und weil manchmal im Rückblick Unverständliches Sinn machen kann. Und weil diese Maturarbeit endlich abgegeben wird und ich meine Freizeit wieder für anderes brauchen kann als fürs Durchlesen von Yasmins Arbeit...

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