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  • Caroline

Eine Pizza in weiter Ferne

Aktualisiert: 26. März

Als ich heute Nachmittag vom Spazieren heim komme, will ich noch schnell einen Pizzateig kneten und zum Aufgehen unter ein feuchtes Tuch legen. Schon bald werden mein Mann und Mina von der Kinderdisco heimkehren. Doch da kommen sie auch schon zur Türe hinein. "Mist," denke ich spontan. "Nicht ihre Schuld," sagt mein faireres Ich. Bestimmt kann ich noch schnell den Pizzateig...


"Du musst mit mir ins Zimmer kommen und spielen, Mami," macht Mina meine Hoffnung sofort zunichte. "Ok, dann machen wir zuerst zusammen den Pizzateig, lassen ihn aufgehen und spielen dann in dieser Zeit." "Nein, Mami, du musst sofort mit mir spielen, hörst du? Kein Pizzateig, nur spielen, jetzt." Ich seufze. Warum muss alles so schwierig sein? Mina müsste mir doch nur drei Minuten geben, damit ich Hefe, Salz, Olivenöl und Wasser mit dem Pizzamehl mischen kann. Danach würde ich den Teig von mir aus auch bei ihr im Zimmer fertig kneten. "Zuerst kurz den Pizzateig, Mina..." "Nein, Mami, nein, SOFORT spielen in meinem Zimmer!!!"


Warum ist Mina so unvernünftig?!? Ich müsste doch wirklich nur eben... "Mina, hör mal..." Aber Mina ist voll gestresst und so wie im roten Zustand, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie man nach drei Stunden Kinderdisco mit seinen Freunden so drauf sein könnte.


Und so stehen wir beide im Wohnzimmer, jede davon überzeugt, dass sie die andere von ihrem Vorhaben abbringen kann. Pattsituation. Aber natürlich ist es schliesslich an mir, auf Mina zuzugehen, denn als Pflegemutter habe die Beziehungsverantwortung, nicht sie. "Also Mina, dann gehen wir halt zuerst ins Zimmer spielen. Und dann erst die blöde Pizza..." Doch Mina hat keine Idee, was wir spielen könnten. Nachdem sie alle meine Spielvorschläge abgelehnt hat und mir noch immer gleich gestresst vorkommt, stellen wir eine Kindergeschichte ein. Irgendwie muss ich Mina aus dem roten Zustand bringen. Als Bibi und Tina über den Bildschirm flimmern, richtet Mina ihre Aufmerksamkeit wirklich auf die Geschichte. Und sagt kaum eine Minute später: "Willst du jetzt den Pizzateig machen gehen, Mami?"


Ich bin wie vom Donner gerührt über Minas plötzliche Kehrtwendung. Zwar kenne ich das traumapädaogische Anwendungsmodell (TAM) mit seiner Einteilung in den grünen, gelben und roten Zustand in der Theorie. Aber wieder einmal in echt zu erleben, wie Minas roter Zustand in sich zusammenfällt, sobald ein neuer Reiz bewirkt, dass sie ins Hier und Jetzt zurückkommt, verblüfft mich immer wieder. Auf einen Schlag ist unsere normale achtjährige Mina zurück, die mir entgegenkommt und auch mal warten kann, weil es logisch ist, dass zuerst der Pizzateig geknetet werden muss, während man prima spielen kann, wenn der Teig danach ganz von allein aufgeht.


Vorher habe ich tauben Ohren gepredigt - und jetzt geht alles wie von selbst. Beim Abendessen - selbstgemachte Pizza schmeckt einfach himmlisch, besonders wenn man sie auf einem Pizzablech mit Löchern drin backt - frage ich meinen Mann: "Kannst du mir vielleicht erklären, wie Mina nach drei Stunden Kinderdisco und Süssigkeiten im roten Zustand sein kann?!?" "Ja, also so drei Stunden in einem dunklen Kellerraum mit lauter Musik waren vielleicht etwas viel für Mina. Ich kann mir das schon vorstellen." Schön, haben wir das auch geklärt.


Lange konnte ich heute nicht erkennen, dass sich Mina nicht von ihrer Position wegbewegen konnte. Weil es mir einfach nicht in den Kopf wollte, dass sie nach dem Tanzen mit ihren liebsten Freunden im roten Zustand sein könnte. Geht es euch manchmal auch so, dass nicht wahrhaben wollt, in welchem Zustand euer Pflegekind gerade ist, bloss weil ihr es euch nicht erklären könnt? Denn was wir uns nicht erklären können, das gibt es nicht... Wir gehen in solchen Situationen nur von uns aus. Und unserem beschränkten Denken fehlt oft der entscheidende Baustein: Die Tatsache, dass unsere Pflegekinder immer einen guten Grund haben für ihren Zustand und ihr Verhalten, ob wir den nun wissen können oder nicht. Das Kämpfen um Vernunft mit einem Kind im roten Zustand ist total sinnlos. Etwa so, wie wenn man mit einem wütenden Stier in der Arena über das Wetter diskutieren wollte. Sinnlos und gefährlich.


Stattdessen könnten wir öfters mal einfach unseren Sinnen trauen, die uns zuverlässig anzeigen, wenn unsere Kinder in einem gestresstem Zustand sind. Zum Beispiel dann, wenn bei einer Zweitklässlerin jede Vernunft zum Fenster hinausgeflohen ist...




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