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  • Caroline

Die Quelle der Weisheit

Herbstferien. Die Taschen sind gepackt. Weil Mina gestern länger aufbleiben durfte, schläft sie heute Morgen noch, als wir die letzten Dinge vor der Abreise erledigen. Diesmal hüpft sie nicht aufgeregt zwischen den Gepäckstücken herum. Aber halt - es ist ja schon 8.45 und Mina schläft immer noch! In knapp einer Stunde müssen wir los. Ich öffne Minas Zimmertüre. Nichts rührt sich. Also gehe ich zu ihrem Bett hinüber, streiche ihr über den Kopf und beginne leise mit ihr zu sprechen. Mina liegt in Embyrostellung im Bett und kuschelt sie sich an mich, die Augen geschlossen. Wunderbar, zur Abwechslung mal ein entspanntes Kind vor dem Aufbruch. Doch irgendwie auch seltsam. Kein bisschen Reisefieber? "Komm, Mina, es ist Zeit zum Aufstehen und Anziehen. Wir gehen bald." Doch anstatt sich subito anzuziehen, holt Mina ein kompliziertes Brettspiel aus dem Schrank und sagt: "Spiel das mit mir, Mami." "Mina, ich muss zuerst noch die Sandwiches fertig streichen. Danach müsste die Zeit noch kurz zum Spielen reichen. Zieh dich unterdessen an." Als ich 10 Minuten später in Minas Zimmer zurückkomme, hat sie immerhin schon die Unterwäsche und ihr Lieblings-Shirt an. Wir kämpfen mit der Spielanleitung und spielen ein paar Züge. Dann ist es Zeit.


Jetzt noch Hose, Socken und Schuhe, dann haben wir es geschafft, denke ich. Mina zieht im Schneckentempo ihre Hose und die Dinosocken an. Dann steht der Mina-Zug still. Sie sitzt in sich gekehrt am Boden und macht keinen Wank mehr. Keine Chance für die Schuhe im Moment. Was ist denn nur los? Ist Mina auf einmal unsicher beim Gedanken, dass wir jetzt wirklich gehen? Hat sie Angst, die Sicherheit unserer Wohnung zu verlassen, obwohl sie das Ferienziel gut kennt? Mein Mann steht schon eine Weile mit dem Gepäck vor der Haustüre und wartet ergeben. Er ist schon lange bereit. Und was mache ich jetzt? Wieder einmal bin vollkommen überrumpelt von einer Situation. Die Quelle der traumapädagogischen Weisheit müsste man jetzt anzapfen können...


Da fällt mein Blick auf die offene Tür zu Yasmins Zimmer. Die 20-Jährige liegt auf ihrem Bett und chillt, die Kopfhörer montiert. Sie kommt nicht mit in die Ferien. Eine Idee beginnt zu spriessen. "Yasmin, ich brauche deine Hilfe!", rufe ich und schwenke die Arme, weil sie ja Musik hört. Yasmin nimmt die Kopfhörer ab. "Komm bitte schnell mit zu Mina. Du musst ihr erzählen, wie das bei dir war als Kind, wenn es dir schwer fiel, in die Ferien zu gehen. Sie braucht das grad dringend. Wir müssen die Schuhe anziehen und gehen. Der Zug fährt bald."


Gott sei Dank erfasst Yasmin die Situation sofort. Sie hockt sich zu Mina auf den Boden und sagt: "Weisst du, ich fand das als Kind auch furchtbar, wenn wir in die Ferien aufbrechen mussten. Man weiss ja nie genau, was kommt. Aber weisst du, wenn man dort ist, ist es super, und man hat alles vergessen." Mina hört aufmerksam zu, und ich sehe an ihren Augen, dass sie zum ersten Mal heute Morgen wirklich "wach" wird. Sie lässt sich von uns die Schuhe anziehen und auf die Füsse stellen. Ich umarme meine grosse Tochter zum Abschied und nehme Mina bei der Hand. Ab zum Bahnhof. Kurve gerade noch gekriegt, denke ich erleichtert. Mina ist heute Morgen wohl doch nicht einfach entspannt aufgewacht, sondern eher erstarrt...


Während der Reise bleibe ich an Minas Seite. Ich habe das Gefühl, dass sie meine innere Ruhe braucht, um sich selber zu stabilisieren. Zuerst ist Mina eher ruhig. Mit der Zeit wird sie gesprächig, dann aufgedreht und schliesslich zapplig. "Sooo ADHS," würde Yasmin sagen, wenn sie hier wäre. Zweimal spüre ich, wie ich innerlich genervt werde und Mina am liebsten abschütteln oder anschreien würde. Kann sie denn nicht einfach mal ruhig sitzen, mit ihren Kuscheltieren spielen, auf ihrem Tablet Geschichten schauen oder zum Fenster rausgucken? Nein, kann sie nicht, sonst würde sie es nämlich tun. Sie gibt schon ihr Bestes, das weiss ich. Da meldet sich die Weisheit zu Wort: "Bleib einfach an Minas Seite." Okay. Ich atme ein paarmal tief durch, sammle Ruhe und Kraft und bleibe innerlich und äusserlich bei ihr.


Als Mina am Ende der Reise endlich schläft und ich selber ins Bett klettern kann, flüstert mir die Weisheit zu: "Morgen ist wieder ein Tag. DEIN erster Ferientag, an dem du dich zurücklehnen und deinem Mann das Szepter überlassen kannst. In den Ferienrhythmus reingleiten. Nichtstun, dich selber vergessen und treiben lassen." Stimmt. Ab morgen werde ich auftanken. Am besten gleich doppelt. Denn heute habe ich mindestens Kraft für zwei verbraucht...




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