Gestern war ich mit Mina an einem Pflegekinderfest. "Du, Mami, dürfen an dieses Fest echt nur Pflegekinder gehen?" "Ja, Pflegekinder und ihre Geschwister." "Mami, aber was ist, wenn jemand nur sagt, dass er ein Pflegekind ist, und es stimmt gar nicht?!" "Ah, du meinst, weil man von aussen nicht sehen kann, ob jemand ein Pflegekind ist oder nicht?'" "Ja genau." Wunderbare philosophische Siebenjährigen-Fragen...
Tatsächlich waren an diesem Tag die Pflegekinder in der Überzahl, ebenso wie einige der Teenager und jungen Erwachsenen, welche die Kinder beim freien Malen, Basteln und Spielen betreuten. Mina gefiel es ausnehmend gut: Von Anfang an drehte sie ihre Runden im und ums Haus, blieb stehen wo es ihr gefiel und spielte nach Herzenslust. Mehrmals traf ich sie auch im Atelier beim Malen an. Einmal putzte sie gerade ziemlich erfolglos an einer riesigen blauen Lache auf dem Holzfussboden herum, als ich vorbeikam. Au weia, dachte ich. Doch niemand schien sich daran zu stören, dass beim Malen auch mal Missgeschicke passieren können. Als ich Mina am Ende des Tages - immerhin ganze 6 Stunden später - ankündigte, dass wir nun nach Hause gehen würden, bettelte sie inständig: "Mami, nein, ich will noch nicht nach Hause. Bitte, bitte, können wir noch bleiben?!?"
Das war wirklich ein besonderer Tag. Obwohl sich die Kinder nicht kannten, schienen sie ohne Probleme miteinander klarzukommen, spielten zusammen oder malten für sich, nebeneinander am Tisch. Mir kam es vor, als spürten die kleinen und grossen Pflegekinder eine Verbindung, so als wüssten sie instinktiv über das Leben der anderen Bescheid und akzeptierten sich so wie sie waren.
Normalerweise ist Mina nach Anlässen mit vielen Leuten aufgedreht und zapplig. Die Heimfahrt im Zug mit ihr ist dann oft anspruchsvoll, und viel inneres "Blib ruhig" ist nötig, um sich nicht aufzuregen. Aber nicht nach diesem Tag: Mina war entspannt und ganz bei sich. Sie plauderte angeregt mit mir oder sang leise vor sich hin. Als ich sie daheim zum Abendessen rief, setzte sie sich ohne Zicken an ihren Platz und ass ihren Teller leer. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer, schloss die Türe und spielte für sich. Wenn ihr bei uns ein- und ausgehen würdet, wüsstet ihr, dass das besondere Vorkommnisse sind. Es schien, als sei Mina plötzlich "gross" geworden und könne sich ohne Probleme von ihrer allerbesten Seite zeigen. Wie war das möglich?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Pflegekinder an diesem Tag für einmal nicht nur thematisch eine Rolle spielten wie an Tagungen und Weiterbildungen üblich, sondern dass sie tatsächlich wichtig waren und geschätzt wurden. Auch die Abwesenheit der grossen Pflegegeschwister in einigen Familien könnte wohlgetan haben: Für einmal kein dankbares Anhängsel bei einer Familie sein müssen, in der die leiblichen Kinder selbstverständlich dazugehören, die Pflegekinder aber nur irgendwie auch. Einen Tag lang nicht die Pflegegeschwister beobachten und nachahmen müssen, um dabei zu sein. Einmal nicht um die Aufmerksamkeit der Pflegeeltern zu kämpfen brauchen. Das war bestimmt Balsam für die anwesenden Pflegekinderseelen.
Ich schätze, wir Pflegeeltern haben im Alltag oft Piratenklappen auf den Augen. Was meine ich damit? Wer eine Piratenklappe trägt, hat ein sehendes und ein blindes Auge. Sagen wir dem sehenden Auge mal Verhaltensauge. Wir schauen damit auf das Verhalten unserer Pflegekinder und sehen - wen wundert's - vor allem die schwierigen Seiten. Wir sind fixiert auf traumabedingte Marotten und Auffälligkeiten, die unbestritten da sind, und nehmen unsere Pflegekinder als anstrengende, herausfordernde, dauernd die Gemeinschaft strapazierende Wesen wahr. Nicht sehr ermutigend und motivierend, unter diesen Umständen seine besten Seiten zu zeigen...
Das andere Auge, das durch unsere Piratenklappe oft verdeckt wird, nenne ich das Anerkennungsauge. Damit sehen und anerkennen wir, dass unsere Pflegekinder Überlebende von schweren seelischen Verletzungen und Belastungen sind und deshalb unter Folgestörungen leiden, für die sie nichts können. Das Anerkennungsauge sieht deshalb auch die Anstrengungen, die unsere Pflegekinder immer wieder leisten. Es nimmt wahr, dass sie jeden Tag von Neuem weitermachen, kämpfen, ihren Lebensmut nicht verlieren wollen und ihr Bestes geben. Damit können wir auf einmal auch die guten Seiten sehen und unsere Pflegekinder nehmen wie sie (noch) sind und nicht so wie wir sie gerne hätten. Und dann ist auf einmal wieder ein bisschen Pflegekinderfest!
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