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Der Ninjago-Krieger

  • Caroline
  • 9. Okt. 2023
  • 3 Min. Lesezeit


Heute sind wir mit dem Zug unterwegs, Mina und ich. Wir reisen an einen See, wo sich Mina mit ihren leiblichen Geschwistern trifft, wie jedes Jahr einmal. Heute stehen Baden, Spielen und Bräteln auf dem Programm. Das Wetter ist herrlich.


Mina freut sich im Vorfeld auf die Geschwistertreffen, und sie redet auch unter dem Jahr immer mal wieder von ihren "richtigen" Brüdern und Schwestern, wie sie sich ausdrückt. Und doch haben es diese Treffen auch jedes Mal in sich. Mina ist nachher immer fix und fertig, und es dauert ein paar Tage, bis sie wieder geerdet ist. Warum? Dass die leibliche Mutter wie ein Geist auch immer irgendwie anwesend ist, habe ich schon bald gemerkt. Und die Geschwister sind sich zwar fremd und sehen sich unter dem Jahr kaum, aber sie scheinen sich auch irgendwie verbunden zu fühlen, denn sie sind jedes Jahr bei den Treffen dabei, vom Grössten bis zum Kleinsten. Eine sehr besondere Gemeinschaft!

Dieses Mal fällt mir auf, dass sich Minas Darm in der Woche vor dem Geschwistertreffen tagelang nicht entleeren kann. "Mami, ich gehe Gaggi machen, " sagt sie zwar immer wieder, und verschwindet im Badezimmer. Bald kommt sie aber wieder raus und berichtet: "Es ist nichts gekommen." Irgendwann hat sie Bauchweh. Kein Wunder. "Ich kann mir vorstellen, dass ich recht durcheinander wäre, wenn ich bald wieder meine richtigen Geschwister treffen würde, die alle im Bauch der gleichen Mama waren," sage ich zu Mina, die mir aufmerksam zuhört, sich aber nicht äussert. Irgendwann kommen ein paar harte Kügelchen heraus. Ich denke zurück an die Zeit, als Mina mit vier Monaten zu uns kam: Zusammen mit dem Säugling, dem Schoppenpulver und ein paar Windeln wurde auch ein Pulver mitgeliefert, das man in die Schoppennahrung geben müsse, da Mina unter Verstopfung leide. Seltsam, Verstopfung bei einem so kleinen Kind, ging es mir damals durch den Kopf. Irgendwann konnten wir das Abführmittel absetzen. Diesmal scheint sich Minas Anspannung vor dem Treffen wieder bei der Verdauung zu zeigen. Ich überlege. Verstopfung ist doch so etwas wie eine Darmerstarrung. Und der Begriff Erstarrung erinnert mich an körperliche Reaktionen in traumatischen Situationen, wenn Flucht und Kampf nicht mehr möglich sind. Geschwistertreffen: Heiss ersehnt und gleichzeitig auch sehr belastend.

Und dann ist es Zeit zum Aufbruch. Auf dem Weg zum Bahnhof zeigt mir Mina, was sie in letzter Sekunde noch eingepackt hat: Den grossen Ninjago-Krieger von Lego. Echt jetzt? Letztes Jahr hatte Mina eine Ninjago-Fan-Phase. Als unsere Fallbegleiterin, die davon wusste, bei einem Besuch im Kreis unserer Familie - mit Mina geborgen auf Noras Knien sitzend - ihre Lebensgeschichte nacherzählte, überreichte sie Mina bei dieser Gelegenheit einen grossen Lego-Ninjago-Krieger. Mina könne sich jetzt vorstellen, dass der starke Kämpfer bei allen Stationen in Minas Leben auch mit dabei gewesen sei. Auch in den ganz schwierigen Momenten, die vermutlich mit grosser Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden gewesen waren (abrupter Abschied von der leiblichen Mutter, ungewisse Zukunft, was nun mit ihr geschehen und wo sie wohl hinkommen würde, etc.). Eine nette Geste, dachte ich damals, aber doch recht abstrakt für ein Kind. Was soll das der Kinderseele helfen? Bei Mina allerdings bekam der chinesisch-japanische Krieger einen Ehrenplatz vorne im Büchergestell. Dort stand er ein Jahr lang Wache.


Und nun nimmt Mina den grossen Ninjago-Krieger intuitiv mit ans Geschwistertreffen. Sie erklärt mir, dass dieser nicht nur auf den Füssen stehend kämpfe. Wenn er die Arme weit ausbreite und die Beine runterklappe und hinten zusammenrolle, könne er auch fliegen. Und auf dem See surfe er einfach mit seinen Füssen. Minas Stimme ist lebhaft und sie scheint recht bei sich zu sein. Beim Warten auf den Zug lehnt sie sich vertrauensvoll bei mir an. Trotz des seelischen Erschütterungspotenzials scheint es für Mina mit dem Ninjago-Krieger so etwas wie Bewältigungsmöglichkeiten zu geben: Nämlich Schutz und Stärke mit ans Treffen nehmen. Ich staune darüber, dass Mina von sich aus auf diese Idee gekommen ist, und in dieser Situation selbstwirksam etwas für sich tun konnte. Ich kann mir denken, dass das ihr Selbstwertgefühl stärkt und heilsam sein kann für die bereits erlebten und zukünftigen bedrohlichen und überwältigenden Momenten in Minas Leben.


Was meint ihr? Ob der Ninjago-Krieger nach dem Geschwistertreffen auch bei der Wieder-Verdünnisierung von Minas Stuhl mithelfen kann?!?




 
 
 

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