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Caroline

Das unsichtbare Band

Sieben Monaten ist es her, seit ich das letzte Mal ohne Mina ein paar Tage weg war. Damals dachte ich, es sei für sie dann am besten, wenn ich auch sonst am Abend fort bin und arbeite. Damit mich Mina möglichst wenig vermisst. Doch als ich ihr davon erzählte, brach sie in Tränen aus und rief: "Nein, Mami, das geht nicht, du musst am Morgen da sein, um mich in die Schule schicken, hörst du?! Du hättest am Wochenende gehen sollen." Die Freundin, mit der ich mich treffen wollte, arbeitet Schicht. Gemeinsame Zeiten zu finden, ist deshalb ein schwieriges Unterfangen. Darum verreiste ich wie geplant. Resultat: Mina war danach eine Woche lang so durch den Wind, verstört und anstrengend, dass ich dachte: Nie wieder!


Vor ein paar Wochen fasste ich endlich wieder Mut und plante etwas Neues, diesmal für mich allein. Und natürlich am Wochenende, denn das hatte ich inzwischen gelernt... Als ich Mina zehn Tage vorher in meine Pläne einweihte, war sie nicht begeistert, reagierte aber genau gleich, wie es auch ihre Schwestern mit acht Jahren getan hätten: Sie protestierte lautstark und versuchte dann, die zwei Übernachtungen auf eine herunterzuhandeln:) Super, alle Ampeln auf grün! Dachte ich bis vor kurz vorhin...


Wir sind auf dem Heimweg von Minas Schulfest, ich zu Fuss, Mina mit dem Velo. Als ich erwähne, dass ich morgen dann ja übers Wochenende wegfahre, kippt sie ohne Vorwarnung in den roten Zustand. Sie rast mir davon, stellt das Velo unter einem Baum ab und klettert behände wie eine Katze nach oben. Von dort schreit sie herunter: "Mami, du darfst nicht weggehen. Ich komme erst wieder runter, wenn du sagst, dass du nicht gehst!"


Bald ist Schlafenszeit, und wir sind noch lange nicht zu Hause. Am liebsten würde ich mich jetzt einfach wegbeamen an den Ägerisee, wo ich mein freies Wochenende verbringen werde. Ich bin müde von der Gluthitze am Schulfest, die Beine schmerzen vom vielen Herumstehen, und ich will nur noch nach Hause. Stattdessen stecke ich hier mit Mina fest. Was nun? Soll ich einfach sagen, wir müssen jetzt nach Hause, sie dann stehen lassen und heimgehen? Meine Intuition sagt mir, dass das bei ihr keine gute Idee ist. Mit ihr diskutieren, sie oben auf dem Baum, und ich unten? Doch was würde das nützen? Ich werde morgen trotzdem verreisen, und ich will Mina keine falschen Hoffnungen machen. Ich brauche einen Weg, der Mina zeigt, dass wir jetzt heim müssen, aber so, dass sie sich nicht im Stich gelassen fühlt. Denn das ist ja wahrscheinlich die Krux an der ganzen Sache, dass sie sich verlassen fühlt und schon ins Loch fällt, obwohl ich noch da bin.


So sage ich zum Baum: "Mina, es ist Zeit zum Heimgehen. Komm." Der Baum gibt mir keine Antwort, und ich mache mich bedächtig auf den Heimweg. Hinter der ersten Kurve halte ich an und warte. Schon bald lugt ein brauner Lockenkopf um die Ecke. Nein, natürlich nicht Mina. Ein Mädchen aus der Siedlung hat uns vorher unter dem Baum beobachtet und dachte wohl, sie könne noch mit Mina spielen. Ich schätze, Mina hat sie losgeschickt, um zu nachzusehen, ob ich wirklich ohne sie nach Hause gehen würde. Trotz der Krisensituation muss ich innerlich grinsen. Ich rufe dem Mädchen zu: "Bitte sag Mina, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen." Der Lockenkopf verschwindet, und ich gehe weiter um die nächste Hausecke. Dort halte ich erneut an, so wie auch der Lockenkopf wieder zum Vorschein kommt. Ich wiederhole meinen Text und gehe dann langsam nach Hause. Ich hoffe zuversichtlich, dass Mina nachkommen wird. Es ist wie das Vertrauen auf ein unsichtbares Band zwischen uns beiden, das hoffentlich auch jetzt nicht reissen wird. Daheim angekommen, schliesse ich die Haustüre auf und klemme ein Holzstück zwischen Tür und Angel, um es Mina möglichst leicht zu machen, hinter mir reinzuschlüpfen.


Als Mina bald darauf heimkommt, flippt sie richtig aus, wirft mit Schuhen nach mir und schreit: "Ich gehe erst ins Bett, wenn du sagst, dass du hierbleibst!!" O weh. Ich breite Minas Bettdecke samt Teddy und Kuscheltuch vor ihr aus und warte, bis sie sich irgendwann hinsetzt. Wie ein Mantra wiederholt sie alle paar Minuten: "Ich gehe erst ins Bett, wenn du sagst, dass du nicht gehst..." Und was mache ich? Ich sage mir immer wieder vor: Morgen ist Ägerisee, aber heute muss ich das mit Mina durchstehen, solange es dauert. Das Einzige, was ich ihr sagen kann, ist: "Mina, ich hab dich so lieb. Schau, ich gehe übers Wochenende weg, um mich zu erholen, wie ich es dir erklärt habe. Und dann komme ich wieder nach Hause zu dir."


"Mami, du musst dein Handy hierlassen", piepst es nach einer geraumen Weile neben mir. Innerlich juble ich, denn damit akzeptiert Mina wohl, dass ich morgen verreise. Nun ist Improvisieren gefragt: "Mina, wenn ich das Handy hier lasse, kann ich es ja nicht hören, wenn du mich anrufst. Aber ich hole dir das Festnetztelefon, und du darfst es bei dir aufs Pult legen, während ich weg bin. Schau, mit der Pfeiltaste hier drückst du so oft nach unten, bis mein Name mit der gespeicherten Handynummer erscheint. Dann tippst du auf die grüne Taste und kannst mich so anrufen. Und wenn ich nicht grad abnehmen kann, rufe ich dich zurück." Mina nimmt das Telefon und ruft mich stante pede an. Ich drücke bei mir die Empfangstaste und rede mit ihr, als ob ich weit weg wäre. In Wirklichkeit sitzen wir direkt nebeneinander auf dem Bett. Und dann kann ich Mina endlich zu Bett bringen.


Am ersten Tag meiner Abwesenheit ruft mich Mina 3x an. Am zweiten Tag sind es noch 2x, und am dritten Tag klingelt das Handy gar nicht mehr. Und meine Heimkehr ist ein Highlight: Mina ist weder distanziert noch wütend wie das letzte Mal, sondern freut sich, mich zu sehen. Sieht so aus, als ob meine telefonische Erreichbarkeit für Mina eine Menge ausmacht. Sicherheit und Vertrauen, Mangelware bei unseren Pflegekindern. Und ich stelle mir vor, dass unser unsichtbares Band wieder wieder einen Faden mehr bekommen hat...



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