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  • Caroline

Blib ruhig!

"Blib ruhig!" ist ein stehender Witz in unserer Familie. Mina sagt das manchmal zu uns und meint damit: "Sei augenblicklich still und halt deine Klappe!". Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass sich Mina dann in einem gestressten Zustand befindet und kein Wort, kein Lachen und überhaupt keinen Pieps mehr hören mag. Dann ist es am besten, einfach nichts mehr zu sagen oder sich aus der Gefahrenzone zu begeben.


Dazwischen darf es aber ruhig lustig zu und her gehen. Für Mina ist es völlig okay, wenn wir anderen einander zum Spass "Blib ruhig" zurufen. Was mich an diesen beiden Worten besonders erheitert, ist, dass Mina jeweils ohne Absicht genau das zum Ausdruck bringt, was es in diesem Moment tatsächlich am dringendsten bräuchte, nämlich innere Ruhe zu bewahren, also einfach "ruhig blibe".


"Blib ruhig" brauchen wir als Familie vor allem am Wochenende. Denn natürlich haben wir nicht einfach entspannte, harmonische Familienwochenenden seit dem schönen Nachmittag an der Familienfeier im Restaurant vor ein paar Wochen. Wir backen weiter mit kleinen Brötchen. Manchmal auch mit ganz kleinen Brötchen. Und wir versuchen "Blib ruhig" zu praktizieren.


Wer dieses Motto heute am meisten brauchen würde, ist mein Mann. Während ich in der Stadt meinen Vater treffe, versucht er ein grosses Brötchen zu backen, indem er Mina dazu bringt, ins Auto zu steigen und mit ihm einkaufen zu gehen. Mina fährt nicht gern Auto. Aber heute sie geht mit. Vor dem Einkaufen gibt's noch eine Portion Pommes für Mina, und alles ist prima. Das heisst - eigentlich hat sie immer noch Hunger. "Okay, du bekommst noch ein Brötchen in der Bäckereiabteilung.", sagt mein Mann zu ihr. Mina zeigt auf ein Brötchen in der langen Auslage. "Das da!". Mein Mann nickt. Leider meint Mina Brötchen Nr. 7 mit der Zuckerkruste, mein Mann aber denkt, er bewillige Brötchen Nr. 8 rechts daneben ohne Zucker. Grosses Geschrei: Brötchen Nr. 8 will Mina nicht, Nr. 7 erhält keine Freigabe. Also kein Brötchen. Beim Heimfahren stellt Mina immer wieder das Radio aus und droht dann, kaum daheim angekommen: "Jetzt mache ich etwas von dir kaputt - den Staubsauger." "Blib ruhig" - In einem solchen Moment einfacher gesagt als getan.


Zum Glück eilt jetzt Yasmin herbei, die ihrem Zimmer alles mitbekommen hat, und sie lenkt Mina erfolgreich ab. Zusammen schauen die beiden Kinder-Backrezepte durch. Mina wählt Dino-Muffins mit Marzipanaugen aus. Yasmin sagt zu ihr: "Mina, ich glaube, du brauchst noch etwas frische Luft. Gehen wir doch gleich in den Laden und kaufen die Zutaten für morgen." Gute Yasmin! Und ein Hoch auf alle leiblichen Kinder in Pflegefamilien, die immer wieder mal ihr eigenes Leben liegen lassen und helfend einspringen. Ich weiss nicht, was wir Eltern ohne euch machen würden!


Als ich vor dem Abendessen heimkomme, liegt noch immer Spannung in der Luft. "Blib ruhig", sage ich zu mir. Mein Mann schüttelt nur konsterniert den Kopf und zeigt auf Mina. Mit mir ist Mina ganz freundlich. Ist auch kein Wunder - mit mit hat sie keinen Brötchenstress. Ein halbe Stunde später kommt Mina ins Wohnzimmer, wo sich mein Mann auf dem Sofa vom Staubsauger-Retten erholt. Er versucht Mina noch einmal vernünftig zu erklären, wieso er das Brötchen Nr. 7 nicht gekauft hat. "F....dich", schreit Mina und rennt wieder in ihr Zimmer. Bemerkenswert, was man in der Schule ausser Lesen und Rechnen noch lernt...


"Blib ruhig", würde ich am liebsten zu meinem empörten Mann sagen. Tue ich natürlich nicht, denn das würde er gar nicht komisch finden. Beide haben mein volles Mitgefühl: Mein Mann - Er versteht die Welt nicht mehr. Denn er hat es im Laden nur gut gemeint und gleichzeitig versucht, das Richtige zu tun. Und Mina - Ihre Welt ist noch mehr aus den Fugen. Denn sie findet es komplett unfair, dass man ihr ein Brötchen verspricht, das sie dann doch nicht bekommt. Unfair sein, Lügen, nicht Halten, was man verspricht: Das sind allesamt rote Tücher für unsere siebenjährige Pflegetochter. Und das Letzte, was sie dann hören will, sind rechtfertigende Erklärungen.


Während ich am Kochen bin, kommt Yasmin zu mir und sagt: "Ich hab's mir anders überlegt: Ich bin zum Essen doch nicht da. Ich gehe lieber mit Kollegen in die Stadt etwas trinken. Mir reicht's grad mit der Familie für den Moment. Ich esse dann später." "Schade," sage ich laut zu Yasmin. "Ich habe mich darauf gefreut, als Familie zu essen. "Blib ruhig", sage ich im Stillen zu mir selber. Morgen ist wieder ein Tag. Ein neuer Tag, an dem wir kleine Brötchen backen werden. Denn diese sind es, die uns Schritt für Schritt unserem Ziel näher bringen, immer mal wieder schöne Zeiten als Familie zu haben.






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