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  • Caroline

3:1

8.10 Uhr an einem Donnerstagmorgen. Die Haustür fällt hinter Mina ins Schloss. Heute wars wieder mal richtig schwierig, sie für die Schule bereit zu machen. Wo ist denn jetzt der Erfolg der Kuscheloffensive? Heute war nichts davon zu merken. Das Anziehen ging noch einigermassen okay. Aber dann war Mina zehn Minuten lang auf der Toilette, was unseren Zeitplan arg strapazierte. In der Zwischenzeit habe ich schon mal mein Sporttenu angezogen, denn ich gehe walken, wenn Mina aus dem Haus ist.


"Wieso hast du Turnhosen an, Mami?", fragt Mina prompt, als sie aus dem Badezimmer kommt. "Ich gehe heute walken." Danach wird Mina weinerlich und bockt. Als sie von mir wissen will, wieviel Zeit sie noch hat, bis die Schulglocke läutet, muss ich ihr die Wahrheit sagen: "Du hast noch fünf Minuten, Mina." "Das schaffe ich nie im Leben", jammert sie und beginnt mit den Beinen nach mir zu treten. Seufzend rücke ich ein Stück weg und versuche dann, ihr über den Rücken zu streichen. Doch Mina schlägt meine Hand weg. Roter Zustand. Ich beginne mich leicht hin und her zu wiegen. Versuchen wir es mit Containment. "Doch, Mina, das schaffst du. Gestern hat es auch gereicht", versuche ich sie zu ermuntern. Irgendwann macht sich Mina auf den Weg. Also Spass macht das so nicht...


Beim Walken überlege ich, welche Laus Mina heute über die Leber gelaufen sein könnte. Hmm... Sie hat gestern Abend schon versucht, mich zu treten, als sie 30 Minuten später als abgemacht nach Hause gekommen ist. "Mina, du bist eine halbe Stunde zu spät, das ist nicht okay", habe ich zu ihr gesagt. Ich kann ihr doch nicht alles durchgehen lassen, Traumafolgestörung hin oder her. Danach wars schwierig mit Mina. Sie guckte böse und war abweisend, bis wir die Kurve schliesslich wieder kriegten. Aber dass sie heute Morgen schon wieder in den roten Zustand gefallen ist, lässt nichts Gutes ahnen. Ich schätze, der Regelsatz von gestern wirkt noch nach und destabilisiert sie. Eigentlich waren es ja sogar zwei Sätze Regeln. Mist! Ja, aber ich musste doch sagen, dass 30 Minuten zu spät heimkommen nicht geht. Ich grüble hin und her. Dann taucht vor meinem inneren Auge das Bild einer Pyramide auf: 3:1, ein grundlegender Baustein der Traumapädagogik. Zu jedem Satz Regeln, Strukturen und Grenzen braucht es drei Sätze Wohlwollen, Freundlichkeit und Beziehungsaufbau. Kann es wirklich daran gelegen haben, dass ich gestern zu Mina sagte, dass 30 Minuten Verspätung zu viel sind?


Ich beschliesse, mit Mina zu reden, wenn sie am Mittag heimkommt. Sie kommt auch heute spät von der Schule heim. Als Mina die Schuhe ausgezogen hat und sich die Hände wäscht, sage ich: "Mina, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich gestern Abend nur zu dir gesagt habe, dass es nicht geht, wenn du am Abend 30 Minuten zu spät nach Hause kommst. Ich habe vergessen, dazu zu sagen, dass ich dich auch liebhabe, wenn du zu spät kommst. Ich finde, du machst es gut, und du bist ein tolles Mädchen. Und ich habe dich so lieb." Habe ich mich wiederholt? Egal, das waren mindestens drei Sätze Wohlwollen. Mina lächelt und setzt sich überraschenderweise auf meine Knie. Sie schmiegt sich an mich und isst dann mit gutem Appetit zu Mittag. Das kommt eher selten vor. Wir verbringen eine schöne Mittagspause zusammen, bis Mina wieder in die Nachmittagsschule aufbricht. Diesmal ist sie gut drauf und geht rechtzeitig aus dem Haus.


Ich staune. Das soll soviel ausmachen? Offenbar. Natürlich muss ich Mina sagen können, was geht und was nicht. Auch Pflegekinder müssen lernen, sich an Abmachungen und Regeln zu halten. Doch der Weg dahin dauert seine Zeit. Damit Mina es gut aufnehmen kann, dass Pünktlichkeit wichtig ist, braucht sie gleichzeitig einen guten Boden, bestehend aus Wohlwollen, Annahme und Liebe. Andernfalls fühlt sie sich offenbar bloss abgelehnt, kritisiert und aus dem Gleichgewicht gebracht.


3:1. Egal, ob die Schweiz übermorgen an der Fussball-EM gewinnt oder verliert, ich habe heute auf jeden Fall gewonnen...

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