Vor ein paar Tagen traf ich einen Freund, der regelmässig den Blog liest. Aus freudigem Interesse, dachte ich bisher. Nein, aus mitleidiger Solidarität, realisierte ich an diesem Tag. Er machte ein deprimiertes Gesicht und schaute mich kummervoll an, als die Rede darauf kam. "Ist ja schon verrückt, dass du dein Leben in ein Pflegekind investierst und es wird nichts besser", meinte er. "Nichts besser?!", fragte ich perplex zurück. "Ja, findest du denn, dass Mina Fortschritte macht?" "Ja, riesige Fortschritte!!", entgegnete ich und begann zu erzählen.
Noch vor ein paar Monaten steckte Mina vermutlich fest in einer Entwicklungsphase, die sonst für 2-3-Jährige typisch ist. Offenbar musste sie diese Phase trotz ihrer 6 1/2 Jahre noch nachholen. Sehr oft kippte sie in dieser Zeit in den roten Bereich und stürzte sich auf uns wie ein Tiger, schlug, trat und schrie laut. Es versteht sich von selbst, dass zweijährige Tiger noch leichter zu bändigen sind als sechsjährige... Es war deshalb eine sehr anstrengende Zeit für uns. (Für Mina bestimmt nicht minder.) Geholfen hat mir die Erinnerung, dass Mina im tatsächlichen Alter von 2-3 Jahren kaum Grenzen austestete oder sonst aufs Ganze ging. Ich weiss noch, wie ich damals dachte, Mina getraue sich wohl nicht, die Autonomiephase richtig auszuleben. Seit diese Entwicklungsphase durch ist, ist eine ganz andere Mina zum Vorschein gekommen: Ein Mädchen, das wie eine andere Siebenjährige zwar Lust und Frust erlebt und das auch zum Ausdruck bringt, das aber auch ein Nein akzeptieren und mal warten kann. Mina kann oft vernünftig mitdenken und -handeln. Ihr gutes Gedächtnis für Dinge, an die man denken muss, haben mir schon aus der Patsche geholfen, wenn ich meinen Kopf woanders hatte. Die Tage, an denen sie in den roten Bereich kippt und ich alles stehen- und liegenlassen und sie zuerst wieder stabilisieren muss, sind viel seltener geworden.
Ich schätze, uns Pflegeeltern tut es gut, Weiterentwicklungen und gemeisterte Phasen richtig wahrzunehmen und als Erfolge zu feiern. Die Augen auch mal auf das zu richten, was beim Pflegekind bereits gesund, gut und erfolgreich gemeistert ist, ermutigt und erfreut und kann einen manchmal so richtig mit Begeisterung erfüllen. So ging es mir, als ich berichten konnte, wie viele Fortschritte ich bei Mina im letzten Jahr erlebt habe. Ich habe beim Erzählen nämlich nur so gesprudelt.
Erfolge und gemeisterte Entwicklungsschritte, das sind von aussen betrachtet vielleicht nur kleine Schritte eines Menschen, so wie bei der ersten Mondlandung. Aber sie werden unseren Pflegekindern im weiteren Leben bestimmt dienen und ihnen helfen, auch in Zukunft ihre besonderen Herausforderungen anzunehmen, ihre ganze Lebenskraft aufzubieten, die sie besitzen und immer mehr zu Menschen zu werden, die mitten im Leben stehen. So gesehen sind einzelne Lebensverläufe in der Summe ein grosser Schritt für die Menschheit.
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