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Caroline

Wenn das Mitgefühl auf der Strecke bleibt

Heute ist der erste Weihnachtstag. Gestern und vorgestern hatten wir Gäste, und ich war tagelang in der Küche beschäftigt. Ich liebe das, Menüs zu planen und in Ruhe zu kochen! Gott sei Dank gab es für Mina die grossen Schwestern und ihre Freunde, mit denen sie draussen unterwegs war. Nun, da alles vorbei ist, könnten wir doch einen entspannten Tag haben, spielen, ausruhen und uns treiben lassen. Doch lest selbst...


Um viertel nach elf Uhr läutet es. Diesmal nicht an der Türe, sondern am Telefon. "Hallo, hier Metzgerei Meister." "O nein, wir hätten ja heute Morgen zwischen 9.00 und 11.00 unsere Fondue Chinoise-Bestellung abholen sollen," durchfährt es mich siedend heiss, und ich entschuldige mich sehr für unser Versäumnis. Können wir jetzt noch vorbeikommen, um unser Weihnachtsessen abzuholen? "Ja, wenn Sie schnell sind," lautet die kurze Antwort. Ich bitte nochmals um Verzeihung und hänge auf. Nun aber fix ins Auto gesprungen und auf zum abseits gelegenen Zielort. "Du, Mami, wir haben doch gestern Abend unser Auto an Nora und ihren Freund ausgeliehen, weil die ihren Autoschlüssel in ihrem Fahrzeug eingeschlossen hatten und nicht mehr heimfahren konnten...", meldet sich Julia zu Wort.


Schlimmer und schlimmer! Nicht genug, dass wir vergessen haben, unsere Bestellung abzuholen. Nun muss ich auch noch zurückrufen, unsere Notlage beichten und fragen, ob sie unser Päckchen irgendwo deponieren können, wenn sie den Laden schliessen. So peinlich! Natürlich meldet sich nur der Telefonbeantworter. Ist ja auch kein Wunder, denn mittlerweile ist es halb zwölf, eine halbe Stunde nach Ladenschluss.


"Mami, ich will jetzt endlich mit Sina abmachen! Du hast gesagt, du schreibst ihrer Mutter. Nun mach schon," unterbricht Mina meine sich jagenden Gedanken. "Mina, du hältst jetzt den Schnabel und wartest, das ist ein Notfall, klar?" Ja, ich weiss, hätte man freundlicher sagen können. Prompt sehe ich, wie sich Minas Gesicht verdüstert, aber ich stecke grad zu sehr in meiner eigenen Geschichte fest. Für Minas Situation habe ich jetzt echt keinen Nerv. Trotzdem schreibe ich noch schnell Sinas Mutter und frage, ob ihre Tochter zum Spielen kommen möchte. Dann versuche ich Nora zu erreichen, damit wir unser Auto zurück bekommen, aber diese schläft wohl noch. Keine Durchkommen im Moment.


Neben mir kippt Mina ins Rote: "Du hast mein Armkettchen genommen, das ich nicht mehr finde, das weiss ich genau!", schreit sie und geht auf mich los. Minas Kettchen habe ich heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen, deshalb kann ich auch nichts mit seinem Verschwinden zu tun haben. Spielt aber auch keine Rolle im Moment. Ich halte sie an den Armen fest und sage bestimmt: "Kein Treten und kein Schlagen, Mina, das tut mir weh." Vollkommen wirkungslos in diesem Moment. Sonst versuche ich Mina dann mit einem anderen Reiz ins Hier und Jetzt zurück zu holen. Doch da ich diesmal die böse Täterin für sie bin, hat das keinen Zweck. "Julia, Yasmin, könnt ihr bitte versuchen, Mina abzulenken und ihr den Fernseher anzustellen?", rufe ich deshalb nach Verstärkung. Wenigstens kein Mangel an Personal zu Hause an Weihnachten...


Zu meinem Mann sage ich: "Ich gehe runter in den Keller, wo ich noch Minas letztes Weihnachtsgeschenk einpacke. Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihr im Moment aus den Augen gehe." Ausgerüstet mit Schere, Klebestreifen und dem Dschungel-Geschenkpapier, das Mina am liebsten mag, gehe ich hinunter in den Keller, und lasse mir Zeit mit Einpacken. Nicht ganz freiwillig, denn das Geschenkpapier, das auf der Rolle noch übrig ist, ist viel zu wenig für die grosse Kartonschachtel mit den Kuscheltieren, die Mina sich gewünscht hat. Ich muss also improvisieren, basteln, schneiden und kleben, um ein einigermassen blickdichtes Päckchen hinzubekommen.


"Versteht denn Mina nicht, wie peinlich und schwierig diese Situation für mich ist, und wie schlecht ich mich fühle, weil mir so ein Fehler passiert ist und Nora nicht mal das Telefon abnimmt?" Nein, das versteht Mina nicht, denn sie ist ja im roten Zustand. Vermutlich ist sie durch mein zweitägiges In-der-Küche-Stehen und Vorbereiten für die Gäste in eine kritische Instabilität geraten, und mein: "Jetzt sei mal ruhig, Mina, hier geht's grad nicht um dich," brachte das Fass zum Überlaufen.


Das leuchtet mir alles ein. Trotzdem kann ich keinen Funken Empathie für Mina empfinden. Ich merke, dass ich zuerst Mitgefühl für mich selbst und meine Situation brauche. Selbst-Empathie sozusagen. Es ist okay und verständlich, dass ich mich schuldig fühle und schäme und gleichzeitig genervt bin, weil Nora nicht erreichbar ist. Das zuzulassen, tut mir wohl. Als die Kuscheltiere endlich verpackt sind, spüre ich, dass ich Mina nun wieder mit Mitgefühl begegnen kann. Als ich vom Keller hochkomme, steht sie bereits im Treppenhaus und hält nach mir Ausschau. Wie sie wohl drauf ist? "Mina, schau ja nicht hin, ich komme mit deinem Geschenk aus dem Keller", rufe ich pseudobesorgt, um ihre Reaktion zu testen. Mina lacht und tut so, als würde sie ihre Augen zuhalten, während sie in Wirklichkeit genau hinguckt, wie gross das Geschenk ist. Gut!


P.S. Die Metzgerei hört meine Nachricht ab und ruft netterweise zurück. Später abholen und das Geld Twinten geht in Ordnung. Sie würden das Päckchen in den Kühlschrank vor dem Gebäude legen, meinen sie. Und Nora holt unsere Bestellung ab, bevor sie das Auto zurückbringt. "Ich habe euer Päckchen im Kühlwagen hinter der Metzgerei gefunden, sieht lecker aus," schreibt sie im Familienchat und postet ein Foto von zwei ganzen Rehhälften...



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