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  • Caroline

Verrückte Zeiten

Eine Woche nach Ostern ist nun auch unser geliebtes Nani gestorben, ein Jahr nach meinem Schwiegervater. Für meine Schwiegermutter war es eine Erlösung. Deshalb sind wir zwar traurig und vermissen sie. Vor allen Dingen aber sind wir froh und erleichtert für sie, weil sie es geschafft hat. Denn mit ihrer zunehmenden Demenz war das Leben für meine Schwiegermutter in den letzten Jahren nur noch selten zum Lachen. Oft runzelte sie angestrengt die Stirn, wenn wir sie besuchten. Suchte nach Worten, die nicht mehr kamen. Und lag zuletzt am liebsten nur noch in ihrem Bett, geborgen und gut betreut.


Als sie nun an einem Samstagmorgen früh stirbt, gehen wir sie besuchen, um Abschied zu nehmen. Schön, dass wir zusammen gehen können, vermutlich mit ganz unterschiedlichen Gefühlen und Empfindungen. Ich zum Beispiel bin jemand, der einen Menschen sehen und am besten auch berühren muss, um wirklich fassen zu können, dass er nicht mehr da ist. Wir gruppieren uns um Nanis Bett und weinen, schweigen oder reden leise miteinander. Nach einer Viertelstunde hat Mina genug und sagt: "Kann ich jetzt rausgehen?" Yasmin nimmt Mina an der Hand und geht mit ihr ums Haus herum auf den Innenhof. Das Zimmer meiner Schwiegermutter liegt ebenerdig. Deshalb können wir einander durch das gekippte Fenster immer noch hören.


Nanis Gesicht ist im Tod wieder ganz glatt, und sie sieht friedlich aus. Das erinnert mich an meine Schwiegermutter, wie sie früher war: Lebhaft, spontan, kreativ, den Menschen zugewandt und voller Ideen. In mir steigen Bilder von Erlebnissen mit ihr auf: Wie sie mir jeweils Hühnersuppe ans Wochenbett brachte, damit ich wieder zu Kräften käme. Wie sie mit den Mädchen immer wieder nach Flüeli-Ranft zu "ihrem" Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) gefahren ist. Wie sie mir zum Geburtstag einmal eine Personenwaage schenkte und hastig hinzufügte, die sei nur für das Wiegen von Koffern vor dem Abflug gedacht... Meine Schwiegermutter, wie sie leibte und lebte.


Nach dem ersten Wochenende folgen die Tage, die man vor einer Beerdigung jeweils einfach durchstehen muss. Weil das Leben weitergeht, obwohl die Welt eigentlich stillstehen müsste: Job, Schule, Studium, Vorstellungsgespräche, Hausaufgaben und Sitzungen. Das können wir irgendwie bewältigen. Doch es braucht mehr Kraft als sonst. Und wir reagieren unterschiedlich darauf:


Ich werde schneller wütend als sonst. Nornalerweise habe ich recht viel Geduld. Doch nun nervt mich eine MPA, die mir am Telefon nicht genau zuhört und unnötige Fragen stellt, bereits gewaltig. Zudem habe ich Kreuzschmerzen. Eigentlich bräuchte ich dringend Luft und Zeit für mich, um meine trauernde Seele machen zu lassen, was sie gerade möchte: Nachdenken, weinen, mich in Ruhe erinnern. Romeo hat mit einem Mal derart starke Knieschmerzen, dass er im Keller die Krücken seines Vaters selig holen und sich für ein MRI anmelden muss. Ergebnis: Mehrfach gerissener Meniskus. Yasmin ist nach ihrer Nachtarbeit in der Bar so müde, dass sie trotz laufender Musik auf dem harten Badezimmerboden einschläft, das Pflaster für die schmerzenden Füsse noch in der Hand.


Nora hat zwei Tage nach Nanis Tod schon wieder eine Ohrenentzündung und braucht Familienanschluss bei uns zu Hause: Zuwendung, Nähe, Umsorgtsein. Obwohl sie schon längst erwachsen und ausgezogen ist. Julia dagegen stören die mangelnde Struktur und die schlecht abgesprochenen Abläufe an ihrem Arbeitsplatz auf einmal so sehr, dass sie an eine Kündigung denkt. Und was macht Mina?


Mina kannte das Nani nicht sehr gut. Sie war erst ganz klein, als es meiner Schwiegermutter noch besser ging, und hatte deshalb keine eigene Beziehung zu ihr. Mina ist also nicht selber am Trauern, doch sie beobachtet uns genau und spürt unsere Stimmungungslage. Und so kommt es, dass Mina fünf Tage nach Nanis Tod morgens um 7.45 geschlagene 20 Minuten auf dem WC sitzt und Bauchweh hat. Trotz aller Anstrengungen ist nix mit Stuhlgang. Mina hält sich den Bauch vor Schmerzen und kann an diesem Vormittag nicht in die Schule. Gemessen an der Stärke der Schmerzen würde ich darauf wetten, dass sie verstopft ist, seit das Nani gestorben ist.


Grrrrrrhhhh... Heute hätte ich endlich mal Zeit für mich gehabt. Stattdessen habe ich nun eine schreiende Mina daheim, muss mich um einen Termin beim Kinderarzt kümmern und mir überlegen, was bis dahin helfen könnte. Ganz ehrlich: Ich könnte auch schreien! Dann dämmert es mir, dass Mina ja bereits als kleines Baby mit chronischer Verstopfung zu uns kam. Ich schätze, das ist ihre Art, auf verrückten Zeiten zu reagieren. Nun bekommt auch sie ihre Zuwendungszeit. Und wer hätte das gedacht: 90 Minuten später kommen Minas Darmwindungen wieder in die Gänge. Den Termin beim Kinderarzt brauchen wir nun nicht mehr...


Ich komme ins Nachdenken: Leben belastete Pflegekinder vielleicht Tag für Tag in einem angespannten Zustand, ähnlich wie wir in dieser Woche? Wir sind beim Trauern ja auch mehr belastet als sonst und reagieren unmittelbar darauf: Mit Ärger, Müdigkeit, Frust, Körpersymptomen, Schmerzen und Krankheiten. Braucht das Leben für diese Kinder wohl fortwährend viel mehr Kraft als für uns andere? Gut möglich. Diese Gedanken helfen mir, mehr Verständnis und Mitgefühl für Menschen zu haben, die sich wegen ihrer Belastungen jeden Tag so durchschlagen müssen. Verrücktes Leben!


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