Heute Sonntagmorgen sitze ich auf der Kellertreppe und weine. Es ist noch nicht mal Mittag, und ich weiss nicht, wie ich diesen Sonntag überstehen soll. Vergangene Woche ist so Vieles gelaufen mit und für Mina. Zusätzliche Efforts, die ich geleistet habe, damit es ihr gut geht:
Ein Gspänli aus der Klasse organisiert für das Jahresgespräch mit der Behörde, bei dem Mina das erste Mal dabei sein musste, damit sie sich weniger allein und ausgeliefert fühlt. Sie am Donnerstagnachmittag nach der Schule liebevoll empfangen und wieder aufgepäppelt, als sie müde heimkam. Mit ihr gepackt und sie zum Bahnhof begleitet fürs Klettern, wie jede Woche. Gestern mit ihr den ganzen Tag am Pflegefamilienfest verbracht. Und nach dem offiziellen Schluss noch länger geblieben, weil sie partout nicht heim wollte.
Warum ich dann jetzt weinend im Treppenhaus sitze? Gute Frage. Vorhin ist Mina ist urplötzlich in meinem Zimmer aufgetaucht und mit Fäusten und Beinen auf mich losgegangen. Als ich ihre Beine festhielt, damit sie mich nicht treten konnte, schrie sie: "Lass mich los!" "Natürlich lasse ich dich los, sobald du mir nicht mehr versuchst, mir wehzutun", antwortete ich. So gings ein paarmal hin und her. Dann packte Mina Romeos Stöcke und versuchte mich damit zu schlagen. "Mina, was ist denn los?", fragte ich ratlos, obwohl ich eigentlich weiss, dass im roten Zustand nichts aus Mina herauszubekommen ist. Bald wurde es mir zu anstrengend, sie mit genügend Kraft von mir wegzuhalten, damit ich kein Opfer würde, aber nur so niedrig dosiert, dass in Mina keine zusätzlichen Opfergefühle aufkämen. Deshalb stand ich auf und nahm ein Buch und meine Wohnungsschlüssel zur Hand. "Ich gehe raus", rief ich noch in Romeos Richtung und schloss die Türe hinter mir ab. Dann setzte ich mich auf die Kellertreppe und hoffte, dass niemand aus dem Wohnblock vorbeikäme... Und nun fliessen meine Tränen unaufhaltsam. Ich bin so müde von der vergangenen Woche, und jetzt auch das noch. Meine momentane Erschöpfung einfach zuzulassen, tut mir wohl.
Dann wird es Zeit zurückzugehen und die Sache mit Mina wieder hinzubekommen. Muss ich meine Tränen, die immer noch laufen, nun unterdrücken und ein gefasstes Gesicht für sie aufsetzen? Nein, beschliesse ich. Es ist okay, echt zu sein, da ich weiss, dass ich Mina mit dem Weinen nicht erpressen und ihr auch keine Schuldgefühle machen will. Zurück in der Wohnung klopfe ich vorsichtig an Minas Zimmertür. Keine Antwort. Ich gehe in mein Zimmer und lasse die Türe offen stehen. Kurz darauf erscheint Mina und schaut mich böse an. "Du hast mich fünfmal genervt. Vier Sachen sind mega schlimm, und etwas schlimm." Eine Idee habe ich, was sie meinen könnte, aber fünf Dinge?!? Mina ist (noch) nicht gewillt, mir zu sagen, worum es sich handelt. Macht nichts. So oder so ist der Zug nun an mir, weil ich die Beziehungsverantwortung habe, und nicht Mina. Ich sage zu ihr:
"Weisst du, ich habe dich mega lieb und will nie etwas machen, das dich nervt oder für dich schlimm ist. Und trotzdem kommt es manchmal vor. Wenn ich fünf schlimme Sachen gemacht habe, tut es mir von Herzen leid. Und wenn es etwas gibt, womit ich es wieder gutmachen kann, kannst du es mir sagen." Mina hört mich schweigend an. Dann beginnt sie unter dem Bett herumzuwühlen und fördert schliesslich eine verstaubte Tischbombe zutage, die wir für ihren letzten Geburtstag gekauft und dann vergessen haben. "Ich will die ablassen." "Gut, gehen wir ins Wohnzimmer, und du darfst sie anzünden", antworte ich. Mina sammelt die goldenen Partygegenstände, die aus der Bombe zu fliegen kommen, mit Feuereifer ein und legt sie für sich beiseite. Manchmal ganz praktisch, das einzige Kind in der Familie zu sein...
Für Mina ist die Sache nun gegessen, denn sie redet wieder ganz unbefangen mit mir. Eine schöne Sache, dieser grüne Zustand. "Mina, vielleicht ist es gut, wenn du mir jetzt noch sagst, was diese fünf Sachen waren, damit ich sie nicht nochmal falsch mache?" "Das mit Joni gestern, weil ich nicht wollte, dass du mit ihm redest, auch wenn ich wegen ihm geweint habe. Dann hast du die Schmetterlinge, die ich am Pflegefamilienfest gebastelt habe, einfach selber aus der Tasche geholt und sie Julia gezeigt. Und dann hast du dreimal auf meine Wunde am Bein gedrückt, obwohl ich stopp gesagt habe."
Ich muss zuerst überlegen, was Mina meint. Dann dämmert es mir: "Meinst du vorher, als du auf mich losgegangen bist und mich treten und schlagen wolltest, und ich dein Bein festgehalten habe, damit du mir nicht wehtust?" "Ja, ich habe stopp gesagt, und du hast es trotzdem nochmal zweimal gemacht."
Bemerkenswert: Während Mina - gemessen an der Situation im Hier und Jetzt - total überreagierte, weil sie innerlich im Damals und Dort war und glaubte, um ihr Leben kämpfen zu müssen, registrierte sie trotzdem noch ganz klar, was ich bei ihr falsch machte...
"Oje, Mina, an deine Schürfung unter der Pijamahose habe ich dem Moment echt nicht gedacht. Ich musste dich doch festhalten, damit du mir nicht wehtust", antworte ich verblüfft. Dann fällt mir noch etwas ein, und ich erkundige mich behutsam: "Sag mal, könntest du dich jetzt eigentlich auch bei mir entschuldigen, weil du so auf mich eingeschlagen hast, oder geht das nicht, weil du ja gestresst und im roten Zustand warst und dich vielleicht gar nicht mehr daran erinnerst?" "Hab ich doch schon gemacht", meint Mina und hüpft fröhlich davon. Ja, in deinen Träumen vielleicht, denke ich belustigt, und registriere, dass nun auch meine Tränen versiegt sind. Gut.
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