Wenn Mina Hausaufgaben von der Schule heimbringt, sagt sie meistens: "Mami, wir müssen Aufgaben machen!" Wir? Ja, ich weiss: Mina muss Hausaufgaben machen, nicht ich. Was denn mein Part bei den Ufzgi ist?
Also, das ist so: Wenn Mina nach mir ruft, gehe ich in ihr Zimmer und schaue mir an, was sie macht. Dann setze ich mich mit etwas Abstand auf den Boden und lehne mich bequem in Minas Sitzsack zurück. Ich bin dann der lächelnde Geist. Das heisst, ich bin zwar anwesend, aber irgendwie unsichtbar. Im Stillen lächle ich Mina zu, mache ihr Mut zu und traue ihr zu, dass sie das mit den Hausaufgaben packt. Auch wenn sie müde ist vom Schultag. Auch wenn ich spüre, wie gestresst und am Ende sie manchmal ist. Schon jetzt, in der 2. Klasse. Anstatt mich zu langweilen oder mich darüber zu nerven, dass ich hier festsitze, obwohl ich doch noch soviel zu erledigen hätte, sage ich mir: "Das ist jetzt auch eine Ausruhezeit für mich. Mitten am Nachmittag. Keine verlorene, sondern wertvolle Zeit." Das ist der lächelnde Geist, der da ist, aber möglichst wenig ins Geschehen eingreift.
Apropos ins Geschehen Eingreifen: Gewöhnlich ruft Mina spätestens bei der vierten Rechnung: "Mami, kannst du das biiiitte schnell für mich rechnen?" Dann steht der lächelnde Geist vom Sitzsack auf, geht zu Mina, schaut ihr über die Schulter und antwortet: "Mina, ich kann diese Rechnungen nicht für dich machen. Aber ich habe die alle auch gerechnet, als ICH in der zweiten Klasse war. Nun bist DU in der zweiten Klasse und machst diese Rechnungen. Du schaffst das." Dann lehne ich mich wieder zurück ins Sitzkissen und lasse Mina weitermachen.
Manchmal ruft sie mich auch, wenn sie müde oder entmutigt ist und nicht mehr weiterkommt. Dann versuche ich herauszufinden, wo sie ansteht, und überlege, wie ich das festgefahrene Aufgabenschiffchen anstupsen kann, damit es selber wieder Fahrt aufnimmt. Bei Rechnungen zum Beispiel picke ich dann die leichteste heraus und sage: "Mach doch zuerst mal die. Und jetzt die, und jetzt die." Im Moment ist der Zahlenraum von 1 bis100 dran. Deshalb hat Mina oft Aufgaben, bei denen sie die passenden Zahlen einsetzen muss. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
54 -- -- 57 58
89 -- 91
-- 12 --14
Bei diesen Zahlen würde ich für Mina die Rechnung rauspicken, bei der sie nur eine Zahl einsetzen muss, also hier die mittlere Rechnung. "Schreib doch hier mal zuerst die Zahl vor 91 rein. Was kommt beim Raufzählen vor 91?, etc. Sobald Mina den Faden wieder gefunden hat, lehne ich mich zurück und lasse sie alleine weitermachen.
Ich denke zurück: Anfangs erster Klasse konnte Mina noch kein bisschen abschalten nach der Schule: Weder ausruhen, noch etwas essen oder trinken war denkbar. Nein, die Aufgaben mussten sofort gemacht werden, auch wenn sie kräftemässig am Ende war. Unterdessen kann ich Mina etwas zu essen oder zu trinken aufs Pult stellen und sie nimmt ab und zu einen Bissen oder trinkt einen Schluck bei den Aufgaben. Der lächelnde Geist scheint auf Mina eine stabilisierende, beruhigende und motivierende Wirkung zu haben. Wenn ich mir das traumapädagogisch überlege, würde ich vermuten, dass die Hausaufgaben Mina schnell in den gelben Zustand bringen, der sich für sie bedrohlich und an der Grenze zu überwältigend anfühlt. Auch wenn sie eigentlich rechnen kann. Wenn ich dann als lächelnder Geist im gleichen Raum bin und mich mit nichts anderem beschäftige als mit ermutigendem Dasein, erhöht sich für Mina wahrscheinlich die Beziehungssicherheit zu mir. Sie erlebt, dass ich sie nicht im Stich lasse. Damit nimmt die Bedrohlichkeit der Aufgaben für sie ab und Mina wird empfänglich für meinen lautlosen Zuspruch: "Du schaffst das, ich bin da und glaube an dich."
Letzte Woche streckte Julia den Kopf in Minas Zimmer, als "wir" wieder einmal Aufgaben machten, und sagte: "Mami, mit mir hast du früher nie Aufgaben gemacht." Ich habe Julia dasselbe erklärt wie euch. Mina macht die Aufgaben, und ich bin eigentlich nur da. Trotzdem: Vielleicht hätte ich den lächelnden Geist doch schon vor 15 Jahre erfinden sollen...
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