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Caroline

De Lüütistreich

Vor ein paar Tagen fragte mich Mina, was passiere, wenn man einen Lüütistreich mache, also irgendwo aufs Geratewohl an der Haustür klingelt und dann wegrennt. Sich vielleicht in den Büschen versteckt und schaut, ob jemand die Tür öffnet und sich nervt.


"Mami, chunt dänn d' Polizei?" "Nein, Mina, ich glaube nicht, dass jemand wegen so etwas die Polizei ruft. Vielleicht regt man sich ein bisschen auf, weil man auf einen Kinderstreich reingefallen und vergebens zur Tür gegangen ist, aber das ist auch schon alles."


Seltsam, meine Antwort scheint Mina gar nicht zu beruhigen. "Aber wenn jemand trotzdem die Polizei holt, Mami? Kommen die dann? Und was machen die dann mit dem Kind?" Spielen wir das Spiel halt noch etwas weiter, denke ich amüsiert, nehme es aber noch immer nicht richtig ernst.


"Hmm... Also wenn jemand wirklich die Polizei anruft wegen eines Streichs, dann sagen die: Regen Sie sich doch nicht so auf über einen Kinderstreich. Wegen so etwas müssen wir doch nicht gleich kommen, oder, Frau Müller?!?" "Ja, aber wenn die trotzdem wollen, dass die Polizei kommt?" Hoppla, hier scheint sich ja jemand richtig Sorgen zu machen,


"Ja, also, dann müssen sie vielleicht am Ende doch kommen. Aber vielleicht sagen sie auch einfach: "Frau Müller, wegen so etwas kommen wir ganz bestimmt nicht vorbei." Ich frage vorsichtig: "Machst du dir Sorgen, was die Polizei dann mit dem Kind macht, das geläutet hat?" "Kommt es dann in das Kindergefängnis?," fragt Mina wie aus der Pistole geschossen. "Nein, wegen so etwas Kleinem kommt man nicht ins Gefängnis." "Und wenn man etwas Grösseres macht, Mami? Steckt die Polizei das Kind dann in den Kinderknast?" Oioioi, jetzt sind wir schon beim Kinder- und Jugendstrafrecht angelangt... "Nein, Mina, Kinder in deinem Alter kommen nicht ins Gefängnis. Wenn die Polizei denkt, dass Eltern nicht gut auf ihr Kind aufpassen und es deshalb immer wieder krasse Sachen macht, kommt es vielleicht in eine Pflegefamilie."


"Hast du schon mal einen Lüütistreich gemacht, Mami?" "Ja klar, als Kind habe ich das auch gemacht. Das kribbelte dann so schön in meinem Bauch vor Aufregung." "Und du, Mina?," fühle ich mich dann doch noch bemüssigt zu fragen. "Muesch du nöd wüsse." Minas Standardantwort, wenn sie Informationen bekommen, aber keine herausgeben will. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie sich immer noch Sorgen macht. Ich kann das nicht begreifen.


Erst ein paar Tage später dämmert es mir: Anders als andere Kinder haben Pflegekinder schon mindestens einmal am eigenen Leib erfahren, was es heisst, wenn unbekannte Autoritäten ins Leben eingreifen und einen irgendwohin verpflanzen. Genau wie Mina, auch wenn sie sich nicht aktiv daran erinnern kann. So ein überwältigendes Erlebnis lässt irgendwelche theoretischen Möglichkeiten, dass die Polizei kommen und etwas Einschneidendes tun könnte, mit einem Schlag ganz real werden. Hinter ganz gewöhnlichen Fragen kann sich eine Kinderseele verbergen, die aus ihrer inneren Ruhe gefallen ist und für die sich etwas ganz bedrohlich anfühlt, von dem wir nichts ahnen. Gelber Zustand, von einer Sekunde zur nächsten.


Wie krass muss das sein, in der Haut eines Pflegekindes zu stecken, wo jede Situation potenziell bedrohlich sein kann und nichts hundertprozentig sicher ist, denke ich. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Kein Wunder, ich bin ja auch kein Pflegekind. Vielleicht denkt ihr jetzt: Was ist das schon, zu wissen, dass man nichts weiss? Schon eine ganze Menge, finde ich. Die Erkenntnis, dass ein Pflegekind manchmal ganz andere Lebenswirklichkeiten hat, kann uns helfen, dass wir weniger...


... von uns ausgehen

... die Pflegekinder mit den leiblichen Kindern vergleichen

... meinen, wir wissen schon wie es geht

... schnell sind im Reden und Handeln


Und auch wenn wir nicht selber spüren können, wie es ist, als Pflegekind aufzuwachsen, hilft uns das Mentalisieren, also die Vorstellung, wie es sein könnte, und das sich mit dem Kopf in etwas Hineinversetzen, uns dem anzunähern. Ein indianisches Sprichwort sagt: "Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst..." Machen wir das doch mal hundertmal, uns in unsere Pflegekinder hineinzuversetzen, und ziehen wir ihre Schuhe an. Dann werden wir immer geübter und effizienter. Das wird dazu beitragen, dass sich unsere Kinder noch mehr akzeptiert, angenommen und verstanden fühlen. Und was dann entwicklungsmässig alles möglich wird, davon können wir uns nur überraschen lassen...


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